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Der Idiot

Der Idiot

Titel: Der Idiot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fjodor Michailowitsch Dostojewski
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sofort die ganze
Geschichte des Arztes vor und bemerkte, er selbst könne bei dem großen
Einfluß, den er auf seinen Onkel ausübe, vielleicht für den
Unglücklichen etwas bewirken.
    ›Das werde ich, das werde ich unbedingt tun; gleich morgen werde ich
meinen Onkel in dieser Angelegenheit überfallen; ich freue mich sogar
sehr; Sie haben das alles so hübsch erzählt ... Aber wie sind Sie denn
eigentlich auf den Einfall gekommen, Terentjew, sich an mich zu wenden?‹
    ›Von Ihrem Onkel hängt hier so viel ab, und außerdem waren wir
beide, Sie und ich, immer Feinde, Bachmutow, und da Sie ein anständig
denkender Mensch sind, so dachte ich, daß Sie es einem Feind nicht
abschlagen würden‹, fügte ich ironisch hinzu.
    ›Gerade wie Napoleon sich an England gewendet hat!‹ rief er lachend.
›Ich werde es tun, ich werde es tun! Ich werde sogar sofort hingehen,
wenn es möglich ist!‹ fügte er eilig hinzu, als er sah, daß ich ernst
und gemessen vom Stuhl aufstand.
    Und wirklich nahm ganz unerwarteterweise diese unsere Sache einen
solchen Verlauf, wie man sich einen besseren gar nicht denken konnte.
Nach anderthalb Monaten erhielt unser Mediziner wieder eine Stelle in
einem andern Gouvernement; er bekam das Umzugsgeld und sogar eine
Unterstützung. Ich vermute, daß Bachmutow, der die beiden Leute häufig
zu besuchen pflegte (während ich seitdem absichtlich nicht mehr zu
ihnen ging und den Arzt, wenn er zu mir kam, ziemlich trocken empfing)
– Bachmutow überredete, wie ich vermute, den Arzt sogar, ein Darlehen
von ihm anzunehmen. Mit Bachmutow kam ich in diesen sechs Wochen
zweimal zusammen, und wir trafen uns zum drittenmal, als wir von dem
Arzt bei seiner Abreise Abschied nahmen. Bachmutow hatte bei sich zu
Hause eine Abschiedsfeier in Form eines Mittagessens mit Champagner
arrangiert; dabei war auch die Frau des Arztes zugegen; indes fuhr sie
sehr bald wieder nach Hause zu ihrem Kind. Das war Anfang Mai; es war
ein klarer Abend, und der gewaltige Sonnenball senkte sich in die Bucht
hinab. Bachmutow begleitete mich nach Hause; wir gingen über die
Nikolajewski-Brücke; der genossene Wein hatte auf uns beide seine
Wirkung ausgeübt. Bachmutow sprach sein Entzücken darüber aus, daß die
Sache zu einem so guten Ende gelangt war, bedankte sich bei mir für
irgend etwas, sagte, eine wie angenehme Empfindung er jetzt nach dieser
guten Tat habe, versicherte, daß das ganze Verdienst mir gebühre, und
bemerkte, es sei ein arger Irrtum, wenn heutzutage viele lehrten und
predigten, daß die gute Tat eines einzelnen keinen Wert habe. Auch mich
drängte es, mich auszusprechen.
    ›Wer das sogenannte Einzelalmosen angreift‹, begann ich, ›der greift
die Natur des Menschen an und verachtet dessen persönliche Würde. Aber
die Organisation des staatlichen Almosenwesens und die Frage der
persönlichen Freiheit sind zwei verschiedene Fragen und schließen sich
gegenseitig nicht aus. Die gute Tat des einzelnen wird stets
bestehenbleiben; denn sie ist ein Bedürfnis der Persönlichkeit, das
lebendige Bedürfnis einer direkten Einwirkung der einen Persönlichkeit
auf die andere. In Moskau lebte ein alter Herr mit einem deutschen
Namen, ein General, das heißt ein Wirklicher Staatsrat; der ging sein
ganzes Leben lang fortwährend in die Gefängnisse zu den Verbrechern;
jeder Trupp von Verschickten, der nach Sibirien abging, wußte im
voraus, daß der alte General ihm auf den Sperlingshügeln 1 einen
Besuch machen werde. Er verfuhr dabei mit größtem Ernst und größter
Frömmigkeit; er erschien, ging durch die Reihen der Verschickten, die
ihn umringten, blieb vor einem jeden stehen, erkundigte sich bei einem
jeden nach seinen Bedürfnissen, hielt fast nie jemandem eine
Strafpredigt und nannte sie alle Täubchen. Er gab ihnen Geld und
schickte ihnen notwendige Gebrauchsgegenstände, wie Fußlappen und
Leinwand; auch brachte er ihnen manchmal geistliche Büchelchen mit und
beschenkte damit jeden des Lesens Kundigen in der festen Überzeugung,
daß diese sie unterwegs lesen und ihren des Lesens unkundigen
Schicksalsgenossen vorlesen würden. Nach den begangenen Verbrechen
fragte er nur selten; indes hörte er zu, wenn der Verbrecher von selbst
davon zu reden anfing. Alle Verbrecher behandelte er gleich; er machte
darin keinen Unterschied. Er sprach mit ihnen wie mit Brüdern; sie
selbst aber betrachteten ihn schließlich als ihren Vater. Wenn er unter
den Verschickten eine Frau mit einem Kind auf dem Arm bemerkte, so

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