Der Idiot
mich
ärgerlich, weil die Kinder zuletzt ohne mich gar nicht mehr leben
konnten und mich immer umdrängten, und der Schullehrer wurde
schließlich mein ärgster Feind. Ich hatte dort viele Feinde, alle um
der Kinder willen. Sogar Schneider machte mir Vorwürfe. Und was
fürchteten sie eigentlich? Man kann einem Kind alles sagen, geradezu
alles; mich hat oft die Wahrnehmung überrascht, wie schlecht die
Erwachsenen die Kinderken nen, sogar die Väter und Mütter ihre eigenen
Kinder. Man darf den Kindern nichts unter dem Vorwand verheimlichen,
sie seien noch zu klein, und es sei für sie noch zu früh, dies und
jenes zu wissen. Welch ein trauriger, unglücklicher Gedanke! Und wie
gut merken es die Kinder selbst, daß die Väter sie für zu klein und
unverständig halten, während sie doch in Wirklichkeit alles verstehen!
Die Erwachsenen wissen nicht, daß die Kinder selbst in den
schwierigsten Angelegenheiten oft einen sehr guten Rat geben können. Oh
Gott, wenn einen so ein hübsches Vögelchen vertrauensvoll und glücklich
anblickt, da schämt man sich ja, es zu betrügen! Vögelchen nenne ich
die Kinder, weil die Vögelchen das Schönste sind, was es auf der Welt
gibt. Übrigens waren alle Leute im Dorf namentlich wegen eines
bestimmten Falles über mich aufgebracht ... Thibaut aber beneidete mich
einfach; am Anfang schüttelte er immer den Kopf und wunderte sich
darüber, wie es zuging, daß die Kinder bei mir alles begriffen und bei
ihm fast nichts; aber als ich ihm dann sagte, wir beide könnten sie
nichts lehren, sondern umgekehrt sie uns, da lachte er mich aus. Und
wie mochte er mich nur beneiden und verleumden, da er doch selbst in
stetem Verkehr mit den Kinder lebte! Durch den Verkehr mit Kindern aber
wird die Seele gesund ... Es war da im Schneiderschen Institut ein
Patient, ein sehr unglücklicher Mensch. Sein Unglück war ein so
furchtbares, daß es kaum seinesgleichen hatte. Er war zur Heilung von
Geistesstörung eingeliefert worden; aber nach meiner Meinung war er
nicht geistig gestört, sondern litt nur entsetzlich, und das war seine
ganze Krankheit. Und wenn Sie nun wüßten, was ihm zuletzt unsere Kinder
wurden ...! Aber von diesem Patienten will ich Ihnen lieber ein
andermal erzählen; jetzt möchte ich erzählen, wie das alles anfing. Die
Kinder liebten mich zuerst nicht. Ich war so groß und immer so
unbeholfen; ich weiß, daß ich unschön bin ..., dazu kam endlich noch,
daß ich Ausländer war. Die Kinder machten sich anfangs über mich
lustig, und dann fingen sie sogar an, mit Steinen nach mir zu werfen,
als sie gesehen hatten, daß ich Marie küßte. Ich habe sie aber nur ein
einziges Mal geküßt ... Nein, lachen Sie nicht!« warf der Fürst hastig
ein, um ein Lächeln seiner Zuhörerinnen zu hemmen, »von Liebe war dabei
ganz und gar nicht die Rede. Wenn Sie wüßten, was für ein unglückliches
Geschöpf sie war, würden Sie selbst sie ebenso bemitleiden, wie ich es
tat. Sie war aus unserem Dorf. Ihre Mutter war eine alte Frau, die in
ihrem kleinen, ganz baufälligen, zweifenstrigen Häuschen das eine
Fenster mit einer Art Ladentisch versehen hatte; aus diesem Fenster
verkaufte sie mit Erlaubnis der Dorfobrigkeit Schnüre, Zwirn, Tabak,
Seife, alles immer für ganz wenige Groschen, und davon lebte sie. Sie
war krank: die Füße waren ihr dauernd geschwollen, so daß sie immer auf einem Fleck sitzen mußte. Marie
war ihre Tochter, zwanzig Jahre alt, schwächlich und mager; schon
längst hatte sich bei ihr die Schwindsucht zu entwickeln begonnen; aber
trotzdem ging sie immer auf Tagelohn zu schwerer Arbeit in die Häuser:
sie scheuerte die Fußböden, wusch Wäsche, fegte die Höfe und versorgte
das Vieh. Ein durchreisender französischer Kommis verführte sie und
nahm sie mit sich fort, ließ sie aber eine Woche darauf unterwegs im
Stich und machte sich heimlich davon. Sich durchbettelnd, kehrte sie
wieder nach Hause zurück, ganz schmutzig, in Lumpen, mit zerrissenen
Schuhen; sie war eine ganze Woche lang zu Fuß gewandert, hatte im
Freien übernachtet und sich stark erkältet; ihre Füße waren wund, die
Hände geschwollen und rissig. Übrigens war sie auch vorher nicht hübsch
gewesen; nur die Augen waren still, gut und unschuldig. Sie war im
höchsten Grade schweigsam. Einmal, noch vor jenem Vorfall, fing sie bei
der Arbeit auf einmal an zu singen, und ich weiß noch, daß alle sich
wunderten und zu lachen anfingen: ›Marie singt! Was stellt das vor?
Marie singt!‹ Sie wurde schrecklich
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