Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Idiot

Der Idiot

Titel: Der Idiot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fjodor Michailowitsch Dostojewski
Vom Netzwerk:
Daß ich Marie geküßt hatte, war zwei Wochen vor dem Tod ihrer
Mutter gewesen, und als der Pastor jene Leichenrede hielt, waren schon
alle Kinder auf meiner Seite. Ich erzählte ihnen sofort wieder, wie
sich der Pastor benommen hatte, und sagte ihnen, wie ich darüber
urteilte; alle waren sie über ihn empört, einige so sehr, daß sie ihm
die Fenster einwarfen. Dies verbot ich ihnen, weil das nicht mehr recht
war; aber im Dorf hatten alle sofort alles erfahren und beschuldigten
mich nun, ich verdürbe die Kinder. Dann erfuhren alle auch, daß die
Kinder Marie lieb hatten, und bekamen darüber einen gewaltigen Schreck;
Marie jedoch fühlte sich schon ganz glücklich. Man verbot den Kindern,
mit ihr zusammenzukommen; aber sie liefen heimlich zu ihr, nach dem
ziemlich weit (fast eine halbe Werst) vom Dorf entfernten Weideplatz
der Herde; sie brachten ihr dies und das zum Essen mit, manche aber
liefen auch einfach hin, um sie zu umarmen, zu küssen und ihr zu sagen:
›Je vous aime, Marie!‹, und dann Hals über Kopf wieder zurückzurennen.
Marie verlor infolge dieses unerwarteten Glücks fast ihren Verstand; so
etwas hätte sie sich nie träumen lassen; sie schämte sich und freute
sich zugleich. Besondere Freude machte es den zu ihr hinlaufenden
Kindern und namentlich den kleinen Mädchen, ihr mitzuteilen, daß ich
sie, Marie, liebte und sehr viel mit ihnen von ihr spräche. Sie
berichteten ihr, daß ich ihnen alles erzählt hätte und daß sie sie
jetzt sehr lieb hätten und bemitleideten und ihr immer treu bleiben
würden. Dann kamen sie zu mir gelaufen und erzählten mir mit
Gesichtchen, die von freudigem Eifer strahlten, sie hätten soeben mit
Marie gesprochen, und sie lasse mich grüßen. Abends ging ich oft nach
dem Wasserfall; dort befand sich ein nach dem Dorf zu ganz verdeckter
Platz, um den herum Pappeln standen; da versammelten sich die Kinder
abends um mich; manche liefen sogar heimlich aus dem Dorf weg. Ich
glaube, ihr ganz besonderes Entzücken war meine Liebe zu Marie, und
dies war während meines ganzen dortigen Aufenthalts der einzige Punkt,
in dem ich sie täuschte. Ich ließ ihnen ihren Glauben, daß ich Marie
liebte, das heißt, in sie verliebt sei, und sagte ihnen nicht, daß ich
sie in Wirklichkeit nur sehr bemitleidete; ich sah an allem, daß es ihnen
besser so gefiel, wie sie sich das selbst ausgedacht und unter sich
zurechtgelegt hatten, und darum schwieg ich und tat, als hätten sie es
erraten. Und wie feinfühlig und zärtlich waren diese kleinen Herzen:
unter anderm meinten sie, das dürfe doch nicht sein, daß ihr guter Léon
Marie so liebe und diese Marie so schlecht gekleidet sei und keine
Schuhe habe. Denken Sie sich, sie beschafften ihr Schuhe und Strümpfe
und Wäsche und sogar einige Kleidungsstücke; auf welche kluge Weise sie
das zustande brachten, ist mir unbegreiflich; der ganze Schwarm wirkte
dabei zusammen. Wenn ich sie darüber befragte, lachten sie nur lustig,
und die kleinen Mädchen klatschten in die Hände und küßten mich.
Manchmal ging auch ich heimlich zu Marie hin. Sie war schon sehr krank
und konnte kaum noch gehen; schließlich war es ihr gar nicht mehr
möglich, dem Hirten irgendwelche Dienste zu leisten; aber sie zog doch
jeden Morgen mit der Herde aus. Sie setzte sich abseits hin; es war da
an einem abschüssigen, beinah senkrechten Felsen ein Vorsprung; dort
setzte sie sich im innersten Winkel, wo niemand sie sehen konnte, auf
einen Stein und saß da fast regungslos den ganzen Tag, vom frühen
Morgen bis zu der Stunde, wo die Herde heimging. Sie war infolge der
Schwindsucht schon so schwach, daß sie meist mit geschlossenen Augen,
den Kopf gegen den Felsen gelehnt, dasaß und, mühsam atmend, halb
schlummerte; ihr Gesicht war so mager geworden wie bei einem Skelett,
und an Stirn und Schläfen trat ihr der Schweiß heraus. In diesem
Zustand fand ich sie immer vor. Ich kam stets nur auf einen Augenblick
und wünschte auch nicht, von den Leuten gesehen zu werden. Sobald ich
mich zeigte, fuhr Marie sofort zusammen, öffnete die Augen und stürzte
auf mich zu, um mir die Hände zu küssen. Ich entzog sie ihr nicht mehr,
weil ihr dies eine Wonne war; die ganze Zeit über, während ich bei ihr
saß, zitterte und weinte sie; einige Male versuchte sie allerdings auch
zu reden; aber es war schwer, sie zu verstehen. Vor Aufregung und
Entzücken war sie wie von Sinnen. Mitunter kamen auch die Kinder mit
mir; sie stellten sich dann gewöhnlich in der Nähe auf und

Weitere Kostenlose Bücher