Der Idiot
verlegen, und ihr Gesang verstummte
dann für ihr ganzes Leben. Damals hatten die Leute sie noch freundlich
behandelt; aber als sie krank und heruntergekommen zurückgekehrt war,
da hatte niemand mit ihr auch nur das geringste Mitleid. Wie grausam
die Menschen in solchen Fällen sind! Was für herzlose Anschauungen sie
von solchen Dingen haben! Als erste empfing die Mutter sie mit Zorn und
Verachtung: ›Du hast mich jetzt entehrt!‹ Sie war auch die erste, die
sie der Schande preisgab: als man im Dorf hörte, daß Marie
zurückgekommen sei, da kamen alle eilig herbeigelaufen, um sie zu
sehen, und fast das ganze Dorf versammelte sich in dem Häuschen der
Alten: Greise, Kinder, Frauen, Mädchen, alle, alle, eine ergrimmte
Menge. Marie lag hungrig und zerlumpt auf dem Fußboden zu den Füßen der
Alten und weinte. Als alle herbeigelaufen kamen, bedeckte sie ihr
Gesicht mit dem aufgelösten, wirren Haar und drückte es gegen den
Boden. Alle Umstehenden betrachteten sie, als ob sie ein Scheusal wäre.
Die alten Männer brachen den Stab über sie und schalten sie, die jungen
Leute machten sich sogar über sie lustig, die Frauen schimpften auf sie
und verdammten sie und sahen sie mit solcher Verachtung an wie eine
ekle Spinne. Die Mutter ließ das alles geschehen, saß selbst dabei,
nickte mit dem Kopf und billigte diese Roheiten. Die Mutter war damals
schon sehr krank und dem Tode nahe (zwei Monate darauf starb sie auch
wirklich); sie wußte, daß sie bald sterben werde, wollte sich aber
trotzdem bis zu ihrem Tod nicht mit ihrer Tochter versöhnen; sie redete
sogar kein Wort mit ihr, jagte sie zum Schlafen auf den Flur hinaus und
gab ihr fast nichts zu essen. Sie mußte ihre kranken Füße oft in warmes
Wasser stellen; Marie wusch sie ihr alle Tage und versorgte ihre
Mutter; aber diese nahm alle Dienstleistungen der Tochter schweigend
hin, ohne ihr auch nur ein einziges freundliches Wort zu sagen. Marie
ertrug alles, und als ich dann später mit ihr bekannt wurde, nahm ich
wahr, daß sie diese Behandlung sogar selbst für gerecht erachtete und
sich selbst für das allerschlechteste Geschöpf hielt. Als die Mutter
dauernd an das Bett gefesselt war, kamen die alten Frauen des Dorfes
der Reihe nach zu ihr, um sie zu pflegen; das ist dort so Sitte. Nun
bekam Marie überhaupt nichts mehr zu essen; im Dorf aber jagten alle
Leute sie fort, und nicht einmal Arbeit wollte ihr jemand geben. Alle
behandelten sie wie eine Verworfene, und die Männer betrachteten sie
gar nicht mehr als Weib, solche unflätigen Schimpfworte gebrauchten sie
ihr gegenüber. Manchmal, indes nur sehr selten, warfen sie ihr, wenn
sie sich sonntags betrunken hatten, des Spaßes halber ein paar Groschen
hin, einfach auf die Erde, und Marie hob sie schweigend auf. Sie fing
schon damals an, Blut zu husten. Schließlich waren ihre Lumpen schon
vollständig zu Fetzen geworden, so daß sie sich schämte, sich im Dorf
blicken zu lassen; barfuß ging sie schon von ihrer Heimkehr an. Da
begann die ganze Kinderschar (es waren über
vierzig Schulkinder) sie zu verhöhnen und sogar mit Schmutz nach ihr zu
werfen. Sie bat den Hirten, er möchte ihr erlauben, die Kühe zu hüten;
aber der Hirt jagte sie weg. Da fing sie an, ohne seine Erlaubnis mit
der Herde auf den ganzen Tag auszuziehen. Da sie dem Hirten sehr viel
Nutzen brachte und er dies bemerkte, so trieb er sie nun nicht mehr
fort und gab ihr sogar manchmal die Überreste seines Mittagessens, Brot
und Käse. Er hielt das für eine große Gnade von seiner Seite. Als die
Mutter gestorben war, schämte sich der Pastor nicht, Marie in der
Kirche vor allem Volk an den Pranger zu stellen. Marie stand, so wie
sie war, in ihren Lumpen, am Sarg. Es hatten sich eine Menge Leute
eingefunden, um zu sehen, wie sie weinen und hinter dem Sarg hergehen
werde; da wandte sich der Pastor (er war noch ein junger Mann, und sein
ganzer Ehrgeiz ging darauf, ein großer Prediger zu werden) an alle
Anwesenden und zeigte auf Marie. ›Die ist es, die an dem Tod dieser
achtenswerten Frau die Schuld trägt‹ (das war unwahr, da die Mutter
schon seit zwei Jahren krank gewesen war); ›da steht sie vor euch und
wagt nicht aufzublicken, weil Gottes Finger sie gezeichnet hat; da ist
sie nun, barfuß und in Lumpen, ein abschreckendes Beispiel für
diejenigen, die vom Pfad der Tugend abirren möchten! Und wer ist es? Es
ist ihre eigene Tochter!‹, und in dieser Art immer weiter. Und denken
Sie sich: diese Gemeinheit gefiel fast allen; aber ...
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