Der Idiot
nun ereignete
sich etwas ganz Besonderes: die Kinder traten für Marie ein; denn zu
dieser Zeit waren die Kinder alle schon auf meiner Seite und hatten
Marie liebgewonnen. Das war so zugegangen. Ich wollte gern etwas für
Marie tun; es war dringend nötig, daß ihr jemand Geld gab; aber Geld
hatte ich dort nie auch nur eine Kopeke in meinem Besitz. Ich hatte
eine kleine Brillantnadel; die verkaufte ich an einen Trödler, der in
den Dörfern herumzog und mit alten Kleidern handelte. Er gab mir dafür
acht Franken, obwohl sie gut vierzig wert war. Lange Zeit bemühte ich
mich, Marie allein zu treffen; endlich begegneten wir einander
außerhalb des Dorfes, an einem Zaun, auf einem Seitenpfad, der in die
Berge führte, bei einem Baum. Dort gab ich ihr die acht Franken und
sagte ihr, sie möchte damit sparsam umgehen, da ich nicht mehr hätte;
und dann küßte ich sie und sagte, sie solle nicht denken, daß ich
irgendwelche unlautere Absicht hätte; ich hätte sie nicht etwa geküßt,
weil ich in sie verliebt wäre, sondern weil sie mir sehr leid täte und
ich sie gleich von Anfang an durchaus nicht für eine Schuldbeladene,
sondern nur für eine Unglückliche gehalten hätte. Ich wollte sie gern
gleich bei dieser Begegnung trösten und ihr deutlich machen, daß sie
sich gar nicht für soviel schlechter als alle zu halten brauche; aber
sie schien das gar nicht zu verstehen. Ich merkte das gleich, obwohl
sie fast die ganze Zeit über schwieg und mit niedergeschlagenen Augen
vor mir stand und sich furchtbar schämte. Als ich zu Ende war, küßte
sie mir die Hand, und ich griff sofort nach der ihrigen und wollte sie
ihr küssen; aber sie zog sie schnell weg. In diesem Augenblick
erspähten uns auf einmal die Kinder, ein ganzer Schwarm; ich erfuhr
später, daß sie mir schon lange nachspioniert hatten. Sie fingen an zu
pfeifen, in die Hände zu klatschen und zu lachen; Marie aber lief
eiligst davon. Ich wollte zu den Kindern etwas sagen; aber sie warfen
nach mir mit Steinen. Noch an demselben Tag erfuhren alle, was
vorgefallen war, das ganze Dorf; alle fielen sie wieder über Marie her
und wurden ihr noch mehr feind. Ich hörte sogar, daß man vorhatte, sie
zu einer Strafe zu verurteilen; indes ging das, Gott sei Dank, noch so
vorüber. Aber dafür ließen ihr die Kinder gar keine Ruhe mehr; sie
verhöhnten sie noch ärger als vorher und bewarfen sie mit Schmutz; sie
jagten ihr nach, und sie floh dann vor ihnen mit ihrer schwachen Brust,
ganz außer Atem, und die Kinder schreiend und schimpfend hinter ihr
her. Einmal begann ich sogar, mich mit ihnen herumzuschlagen. Dann
versuchte ich mit ihnen zu reden und redete zu ihnen jeden Tag,
sooft ich nur dazu die Möglichkeit hatte. Manchmal blieben sie stehen
und hörten zu, obwohl sie immer noch schimpften. Ich erzählte ihnen,
wie unglücklich Marie sei; bald hörten sie denn auch auf zu schimpfen
und gingen schweigend fort. Allmählich kam es dazu, daß wir miteinander
Gespräche führten; ich verheimlichte ihnen nichts, sondern erzählte
ihnen alles. Sie hörten sehr neugierig zu und begannen bald, Marie zu
bemitleiden. Einzelne fingen an, wenn sie ihr begegneten, sie
freundlich zu grüßen; es ist dort Sitte, wenn man einander begegnet, ob
man sich nun kennt oder nicht, sich zu grüßen und guten Tag zu sagen.
Ich kann mir vorstellen, wie erstaunt Marie darüber war. Eines Tages
verschafften sich zwei kleine Mädchen etwas Essen, trugen es ihr hin,
gaben es ihr und kamen dann zu mir, um es mir zu sagen. Sie erzählten
mir, Marie habe geweint, und sie hätten sie jetzt sehr lieb. Bald
fingen alle an, sie liebzuhaben, und gleichzeitig auf einmal auch mich.
Sie kamen nun oft zu mir und baten immer, ich möchte ihnen etwas
erzählen; ich muß wohl gut erzählt haben, weil sie mir sehr gern
zuhörten. In der Folgezeit lernte und las ich immer nur in der Absicht,
es ihnen nachher zu erzählen, und so habe ich ihnen in den ganzen
nächsten drei Jahren immer etwas erzählt. Als mir dann alle, auch
Schneider, Vorwürfe darüber machten, daß ich mit den Kindern wie mit
Erwachsenen spräche und ihnen nichts verheimlichte, antwortete ich
ihnen, man müsse sich schämen, den Kindern etwas vorzulügen; sie
erführen ja doch alles, wie sehr man es ihnen auch zu verbergen suche,
und erführen es vielleicht auf eine häßliche Weise; wenn sie es aber
von mir hörten, so sei das nicht der Fall. Ein jeder brauche sich nur
an seine eigene Kindheit zu erinnern. Aber sie stimmten mir nicht bei
...
Weitere Kostenlose Bücher