Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Idiot

Der Idiot

Titel: Der Idiot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fjodor Michailowitsch Dostojewski
Vom Netzwerk:
bedenkt, daß das so bis zur
letzten Viertelsekunde fortgeht, wo der Kopf schon auf dem Brett liegt
und wartet und ... weiß, was kommen wird, und auf einmal über sich das
Geräusch gleitenden Eisens hört! Das hört man unbedingt! Ich, wenn ich
daläge, ich würde absichtlich darauf aufpassen und danach hinhören!
Dieses Geräusch dauert vielleicht nur den zehnten Teil eines
Augenblicks; aber man hört es unbedingt! Und nun denken Sie sich, daß
man bis auf den heutigen Tag darüber streitet, ob nicht möglicherweise
der Kopf, wenn er abgeschlagen ist, noch vielleicht eine Sekunde lang
weiß, daß er abgeschlagen ist – welch eine Vorstellung! Und wie, wenn
er es gar fünf Sekunden lang weiß ...! Zeichnen Sie das Schafott so,
daß nur die oberste Stufe deutlich und nah zu sehen ist; der
Verurteilte hat sie betreten: man sieht seinen Kopf, das Gesicht ist
weiß wie ein Blatt Papier; der Geistliche hält ihm das Kruzifix hin;
der streckt begierig seine bläulichen Lippen danach aus und sieht, was
vor ihm ist, und – weiß alles. Das Kruzifix und der Kopf, die bilden den
eigentlichen Gegenstand des Bildes; die Gesichter des Geistlichen, des
Scharfrichters und seiner bei den Gehilfen und ein paar Köpfe und Augen
weiter unten, das alles braucht nur im Hintergrund dargestellt zu sein
wie im Nebel, nur als Beiwerk ... So denke ich mir das Bild.«
    Der Fürst schwieg und blickte die Damen alle an.
    »Das sieht nun freilich nicht wie Quietismus aus«, sprach Alexandra vor sich hin.
    »Und jetzt, bitte, erzählen Sie uns, wie Sie verliebt waren!« sagte Adelaida.
    Der Fürst blickte sie erstaunt an.
    »Tun Sie mir den Gefallen!« fuhr Adelaida schnell fort.
    »Sie sind uns ja allerdings auch noch die Beschreibung des Baseler
Bildes schuldig; aber jetzt möchte ich hören, wie Sie verliebt waren;
leugnen Sie nicht, Sie sind verliebt gewesen! Zudem werden Sie, sobald
Sie zu erzählen anfangen, aufhören ein Philosoph zu sein.«
    »Jedesmal, wenn Sie mit einer Erzählung fertig sind, schämen Sie
sich sofort dessen, was Sie erzählt haben«, bemerkte Aglaja plötzlich.
»Woher kommt das?«
    »Was redest du da für dummes Zeug!« schalt die Generalin und blickte Aglaja mißbilligend an.
    »Ja, das war sehr unverständig«, stimmte Alexandra ihr bei.
    »Glauben Sie nicht, daß sie das wirklich meint, Fürst!« wandte sich
die Generalin an diesen; »sie redet absichtlich so, aus irgendeiner
Tücke; so dumm ist sie gar nicht. Nehmen Sie es nicht übel, daß die
Mädchen Sie so quälen! Gewiß führen sie irgend etwas im Schilde; aber
sie sind schon sehr für Sie eingenommen. Ich kenne ihre Gesichter.«
    »Auch ich kenne die Gesichter der jungen Damen«, erwiderte der Fürst mit besonders starker Betonung.
    »Wieso?« fragte Adelaida neugierig.
    »Was wissen Sie von unsern Gesichtern?« fragten auch die beiden andern in lebhafter Spannung.
    Aber der Fürst schwieg mit ernster Miene; alle warteten auf seine Antwort.
    »Ich werde es Ihnen später sagen«, versetzte er leise und ernst.
    »Sie wollen sich durchaus bei uns interessant machen«, rief Aglaja. »Und was machen Sie dabei für ein feierliches Gesicht!«
    »Nun gut«, sagte Adelaida wieder in ihrer hastigen Art. »Aber wenn
Sie ein solcher Kenner von Gesichtern sind, dann sind Sie sicherlich
auch verliebt gewesen; ich habe also richtig vermutet. Erzählen Sie uns
also davon!«
    »Ich bin nicht verliebt gewesen«, antwortete der Fürst ebenso leise
und ernst wie vorher; »ich ... ich war auf andere Weise glücklich.«
    »Wie denn? Wodurch denn?«
    »Nun gut, ich will es Ihnen erzählen«, sagte der Fürst; er schien in tiefes Nachdenken versunken zu sein.

VI
    »Da schauen Sie mich nun alle mit solcher Neugier an«, begann er,
»daß Sie mir am Ende noch böse werden, wenn ich diese Neugier nicht
befriedige. Nein, nein, ich scherze nur«, fügte er schnell mit einem
Lächeln hinzu. »Dort ... dort gab es viele Kinder, und ich bin die
ganze Zeit über mit Kindern zusammen gewesen, nur mit Kindern. Es waren
die Kinder jenes Dorfes, eine ganze Schar, die die Schule besuchte.
Unterrichtet habe ich sie nicht, oh nein; dazu war ein Schullehrer
dort, Jules Thibaut; ich habe sie wohl auch dies und das gelehrt;
größtenteils aber war ich ohne solche Absicht mit ihnen zusammen, und
die ganzen vier Jahre habe ich in dieser Weise verlebt. Weiter hatte
ich keine Wünsche. Ich sagte ihnen alles, ohne ihnen etwas zu
verheimlichen. Ihre Eltern und Verwandten waren alle auf

Weitere Kostenlose Bücher