Der Idiot
einer
Woche zurückkommen. Aber sobald er völlig wach geworden war, hörte er
auf zu streiten und schwieg. So erzählte man. Dann sagte er: ›Es ist
doch schrecklich, so plötzlich ...‹ und verstummte wieder und vermochte
nun kein Wort mehr zu sagen. Nun vergehen drei, vier Stunden, die durch
die bekannten Dinge ausgefüllt werden: durch den Besuch des
Geistlichen, durch das Frühstück, bei dem ihm Wein, Kaffee und
gebratenes Rindfleisch gereicht werden (aber ist das nicht der reine
Hohn? Bei einiger Überlegung sagt man sich ja, welche Grausamkeit darin
liegt; aber andererseits handeln diese harmlosen Leute in bester
Meinung und sind überzeugt, daß das Humanität ist); dann folgt die
Toilette (Sie wissen wohl, worin die Toilette eines Hinzurichtenden
besteht); schließlich fährt man ihn durch die Stadt zum Schafott ...
Ich denke mir, daß er, auch während er so fuhr, die Vorstellung gehabt
hat, es bleibe ihm noch eine endlose Zeit zum Leben übrig. Ich glaube,
er hat unterwegs gewiß gedacht: ›Es dauert noch lange; noch drei
Straßen lang habe ich zu leben; jetzt fahre ich durch diese, dann kommt
noch jene, dann noch jene, wo rechts der Bäckerladen ist ... es ist
noch eine ganze Weile, bis wir zu dem Bäckerladen kommen!‹ Ringsumher
eine Menge Volk, Geschrei, Lärm, zehntausend Gesichter und Augenpaare –
all das muß er ertragen, und das ärgste ist der Gedanke: ›Da sind nun
zehntausend Menschen, und keiner von ihnen wird hingerichtet; aber ich
werde hingerichtet!‹ Nun, das ist alles erst die Vorbereitung. Auf das
Schafott führte eine kleine Treppe hinauf; vor dieser Treppe brach er
plötzlich in Tränen aus, und dabei war er ein starker, kräftiger Mann,
ein gewalttätiger Verbrecher, wie man sagte. Die ganze Zeit über war
beständig der Geistliche bei ihm; er fuhr auch auf dem Wagen neben ihm
und redete fortwährend; der Verurteilte hörte kaum hin, und wenn er
anfing zuzuhören, so verstand er vom dritten Wort an nichts mehr. So
muß das wohl gewesen sein. Endlich begann er die Treppe hinanzusteigen;
da ihm die Füße gefesselt waren, konnte er nur ganz kleine Schritte
machen. Der Geistliche, wohl ein verständiger Mensch, sprach nicht
mehr, sondern hielt ihm immer ein Kruzifix zum Küssen hin. Schon am Fuß
der Treppe war er sehr blaß; als er aber hinaufgestiegen war und auf
dem Schafott stand, wurde er auf einmal weiß wie ein Blatt Papier, ganz
wie ein Blatt weißes Schreibpapier. Wahrscheinlich wurden ihm die Beine
schwach und steif, und es wandelte ihn eine Übelkeit an, wie wenn er in
der Kehle ein Würgen und infolgedessen eine Art Kitzel fühlte – haben
Sie diese Empfindung nicht auch schon manchmal bei Schreck oder in besonders
furchtbaren Augenblicken gehabt, wenn der ganze Verstand zwar noch da
ist, aber keine Kraft mehr hat? Ich meine, wenn einem beispielsweise
unentrinnbares Verderben droht, das Haus über einem zusammenstürzt,
dann bekommt man auf einmal ein schreckliches Verlangen, sich
hinzusetzen und die Augen zu schließen und zu warten: komme, was kommen
mag ...! Da nun, als diese Schwäche begann, hielt ihm der Geistliche
auf einmal ganz schnell, mit einer raschen Bewegung und ohne ein Wort
zu sagen, das Kruzifix dicht an die Lippen (es war so ein kleines,
silbernes Kruzifix), und das tat er zu wiederholten Malen, alle
Augenblicke. Und sowie das Kruzifix seine Lippen berührte, öffnete er
jedesmal die Augen und schien sich wieder für ein paar Sekunden zu
beleben, und die Beine gingen weiter. Das Kruzifix küßte er begierig
und hastig, als beeile er sich, für jeden Fall eine Art von Reisevorrat
mitzunehmen; aber schwerlich hatte er in diesem Augenblick irgendwelche
frommen Gedanken. So ging es, bis er dicht bei dem Brett war ... Es ist
merkwürdig, daß nur selten ein Verurteilter in diesen letzten Sekunden
in Ohnmacht fällt! Im Gegenteil ist der Kopf sehr lebendig und arbeitet
wahrscheinlich mit aller Kraft, mit aller Kraft, wie eine in Gang
befindliche Maschine; ich stelle mir vor, daß allerlei Gedanken darin
nur so pochen, unvollendete und vielleicht auch lächerliche,
fremdartige Gedanken: ›Der Mensch, der da zusieht, hat eine Warze auf
der Stirn; an dem Rock des Scharfrichters ist unten der eine Knopf
verrostet ...‹, und dabei weiß man alles und erinnert sich an alles;
und da ist ein Punkt, den man auf keine Weise vergessen kann, und in
Ohnmacht fallen kann man auch nicht, und alles dreht und bewegt sich um
ihn, um diesen Punkt. Und wenn man nun
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