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Der Idiot

Der Idiot

Titel: Der Idiot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fjodor Michailowitsch Dostojewski
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sich eine neue Flasche
geben lassen, die er erst nach einer Stunde geleert hatte; dann hatte
er noch eine dritte verlangt und auch diese ausgetrunken. Man kann sich
leicht denken, daß der General dabei Zeit gefunden hatte, fast seine
ganze Lebensgeschichte zu erzählen. Endlich stand der Fürst auf und
erklärte, er könne nicht länger warten. Der General trank den letzten
Rest aus seiner Flasche aus, erhob sich und verließ mit sehr unsicheren
Schritten das Zimmer. Der Fürst war in Verzweiflung. Es war ihm jetzt
unbegreiflich, wie er hatte so dumm sein können, auf diesen Menschen
sein Vertrauen zu setzen. In Wirklichkeit hatte er ja auch nie sein
Vertrauen auf ihn gesetzt; er hatte nur insofern auf den General
gerechnet, als er gehofft hatte, durch dessen Beihilfe Einlaß bei
Nastasja Filippowna zu finden, wenn auch mit etwas unangenehmem
Aufsehen; aber er hatte nicht erwartet, daß der General sich in einem
derartig skandalösen Zustand befinden werde: Er war völlig betrunken,
entwickelte eine große Redseligkeit und sprach ohne Unterbrechung in
sehr gefühlvoller, ja weinerlicher Weise. Sein Thema war dabei
fortwährend dieses: durch das schlechte Benehmen all seiner
Familienmitglieder sei alles zugrunde gegangen, und es sei endlich
Zeit, dem ein Ende zu machen. Endlich traten sie auf die
Litejnaja-Straße hinaus. Das Tauwetter dauerte noch fort; ein
bedrückender, warmer, feucht riechender Wind pfiff durch die Straßen;
die Kutschen platschten im Schmutz; die Hufschläge der Traber und
Karrengäule ertönten mit hellem Klang auf dem Pflaster. Die Fußgänger
wanderten trübselig und durchnäßt die Trottoirs entlang. Man begegnete
einzelnen Betrunkenen.
    »Sehen Sie wohl diese erleuchteten Beletagen?« sagte der General.
»Hier wohnen überall meine Kameraden, und ich, der ich am längsten von
ihnen gedient und am meisten durchgemacht habe, ich schleppe mich zu
Fuß nach dem Großen Theater in die Wohnung eines zweideutigen
Frauenzimmers! Ein Mann, der dreizehn Kugeln in der Brust hat ... Sie
glauben es nicht? Und doch hat einzig um meinetwillen Pirogow 1 nach
Paris telegraphiert und seine Aufmerksamkeit dem belagerten Sewastopol
eine Zeitlang entzogen, und Nélaton, der Pariser Hofarzt, hat sich im
Namen der Wissenschaft freies Geleit verschafft und ist in das
belagerte Sewastopol hereingekommen, um mich zu untersuchen. ›Ach, das
ist jener Iwolgin, der dreizehn Kugeln im Leibe hat!‹, so reden die
Leute von mir. Sehen Sie wohl dieses Haus hier, Fürst? Hier wohnt in
der Beletage ein alter Kamerad von mir, General Sokolowitsch, mit
seiner zahlreichen, prächtigen Familie. Dieses Haus und noch drei
Häuser auf dem Newski-Prospekt und zwei in der Morskaja-Straße, die
bilden jetzt meinen ganzen Bekanntenkreis. Wenn ich sage ›meinen‹, so
bezieht sich das nur auf meine eigene Person; Nina Alexandrowna hat
sich schon längst den Verhältnissen gefügt. Aber ich gebe mich immer
noch in der gebildeten Gesellschaft meiner ehemaligen Kameraden und
Untergebenen, die mich bis auf den heutigen Tag vergöttern, meinen
Erinnerungen hin und finde da sozusagen meine Erholung. Dieser General
Sokolowitsch ... ich bin übrigens schon lange nicht mehr bei ihm
gewesen und habe Anna Fjodorowna geraume Zeit nicht gesehen ... wissen
Sie, lieber Fürst, wenn man selbst nicht mehr empfängt, dann hört man
auch unwillkürlich auf, bei anderen Besuche zu machen. Indessen ... hm
...! Sie scheinen mir nicht zu glauben ... Übrigens, warum sollte ich
den Sohn meines besten Freundes und Jugendgespielen nicht in diese
entzückende Familie einführen? General Iwolgin und Fürst Myschkin! Sie
werden ein reizendes junges Mädchen kennenlernen, oder vielmehr nicht
eines, sondern zwei, ja drei, die Zierden der Residenz und der
vornehmen Gesellschaft: Schönheit, Bildung, moderne Richtung ...
Frauenfrage, Poesie, all das hat sich bei ihnen zu einer glücklichen,
bunten Mischung vereinigt, ganz abgesehen von den achtzigtausend Rubeln
Mitgift in barem Geld für eine jede von ihnen, was trotz aller
Frauenfragen und sozialen Probleme niemals schaden kann ... mit einem
Wort, ich fühle mich unbedingt verpflichtet und verbunden, Sie
einzuführen. General Iwolgin und Fürst Myschkin! Mit einem Wort ... das
macht Eindruck!«
    »Jetzt? Jetzt gleich? Aber Sie haben vergessen ...«, begann der Fürst.
    »Nichts, nichts habe ich vergessen! Wir wollen hingehen! Hier diese
prachtvolle Treppe hinauf! Ich wundere mich, daß kein Portier da ist;
aber

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