Der Idiot
bevorstand, und fürchtete sich davor. Dies war der Grund, weshalb er an dem Morgen, mit dem wir unsere Erzählung begonnen haben, schlechterdings keine Lust hatte, im Schoß der Familie sein Frühstück einzunehmen. Noch bis zur Ankunft des Fürsten war er entschlossen gewesen, sich mit dringenden Geschäften zu entschuldigen und der Sache aus dem Weg zu gehen. Aus dem Weg zu gehen bedeutete bei dem General manchmal nichts anderes als die Flucht ergreifen. Er wollte wenigstens diesen einen Tag und namentlich den heutigen Abend ohne Unannehmlichkeiten genießen. Da stellte sich plötzlich, wie gerufen, der Fürst ein. »Den hat mir Gott gesandt!« dachte der General im stillen, als er zu seiner Gemahlin ins Zimmer trat.
Fußnoten
1 Etwa »Freudendorf«. (A.d.Ü.)
V
Die Generalin war auf ihre Abstammung stolz. Wie mußte ihr da zumute sein, als sie so geradezu und ohne alle Vorbereitung hörte, daß dieser letzte Sprößling des Myschkinschen Fürstengeschlechts, über den ihr bereits einiges zu Ohren gekommen war, nichts weiter als ein kläglicher Idiot und beinah ein Bettler sei und Almosen annehme! Denn der General haschte bei der Schilderung, die er von ihm entwarf, nach Effekt, um gleich von vornherein das Interesse seiner Gattin für ihn zu erwecken, ihre Gedanken nach einer andern Seite abzulenken und infolge dieser Erregung der Frage nach dem Perlenschmuck zu entgehen.
Bei besonderen Ereignissen riß die Generalin gewöhnlich die Augen sehr weit auf, bog den Oberkörper etwas zurück und blickte, ohne ein Wort zu sagen, starr vor sich hin. Sie war eine hochgewachsene Frau, von gleichem Alter wie ihr Mann, mit dunklem, größtenteils schon ergrautem, aber immer noch dichtem Haar, mit etwas gekrümmter Nase, mager, mit gelben, eingefallenen Wangen und schmalen, welken Lippen. Ihre Stirn war hoch, aber nicht breit; die grauen, ziemlich großen Augen hatten mitunter einen recht ungewöhnlichen Ausdruck. Sie hatte früher die Schwäche gehabt, zu glauben, daß ihr Blick außerordentlichen Eindruck mache, und diese Überzeugung war ihr unausrottbar verblieben.
»Empfangen? Sie sagen, ich soll ihn empfangen, jetzt, auf der Stelle?«
Dabei riß die Generalin die Augen auf, so weit es nur ging, und blickte den vor ihr auf und ab gehenden Iwan Fjodorowitsch an.
»Oh, du brauchst mit ihm gar keine Umstände zu machen, liebe Frau, falls du überhaupt Lust hast, ihn zu sehen«, beeilte sich der General erläuternd hinzuzufügen. »Er ist das reine Kind und dabei so bemitleidenswert; er leidet an irgendwelchen Krankheitsanfällen; er kommt soeben aus der Schweiz, direkt von der Bahn, trägt einen sonderbaren Anzug, wohl nach deutscher Art, und hat überdies buchstäblich keine Kopeke in seinem Besitz; er weint beinah. Ich habe ihm fünfundzwanzig Rubel geschenkt und will ihm bei uns in einem Bureau eine kleine Stelle als Schreiber verschaffen. Und euch, mesdames, bitte ich, ihn zu bewirten, da er, wie es scheint, auch recht hungrig ist ...«
»Sie setzen mich in Erstaunen«, erwiderte die Generalin in derselben Art wie vorher, »hungrig und Anfälle! Was sind denn das für Anfälle?«
»Oh, sie wiederholen sich nicht oft, und überdies ist er sonst wie ein Kind, übrigens ein gebildeter Mensch. Ich wollte euch bitten, mesdames«, wandte er sich wieder zu seinen Töchtern, »ihn ein bißchen zu examinieren; es wäre doch gut, wenn man wüßte, wozu er zu brauchen ist.«
»Ex-a-mi-nie-ren?« fragte die Generalin in gedehntem Ton und ließ höchst erstaunt ihre Augen wieder von ihren Töchtern zu ihrem Mann und umgekehrt herüberrollen.
»Ach, liebe Frau, so mußt du das nicht auffassen ... übrigens ganz, wie es dir gefällig ist; ich wollte ihm eine kleine Freundlichkeit erweisen und ihn bei uns verkehren lassen; denn das ist beinahe ein gutes Werk.«
»Bei uns verkehren lassen? Aus der Schweiz kommt er?«
»Die Schweiz kann dabei nicht hinderlich sein; übrigens noch einmal: ganz wie du willst. Ich wünschte es deswegen, weil er erstens dein Namensvetter und vielleicht sogar ein Verwandter von dir ist, und weil er zweitens nicht weiß, wo er sein Haupt hinlegen soll. Ich dachte sogar, du würdest dich für ihn ein wenig interessieren, da er ja doch zu unserer Familie gehört.«
»Selbstverständlich, Mama, wenn wir mit ihm keine Umstände zu machen brauchen«, sagte Alexandra, die Älteste. »Überdies wird er von seiner Reise hungrig sein; warum sollen wir ihm da nicht etwas zu essen geben,
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