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Der Idiot

Der Idiot

Titel: Der Idiot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fjodor M. Dostojewskij
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Lisaweta Prokofjewna in Angst versetzte und durch seine bitteren Andeutungen über Ganja ihre Entrüstung erregte. Er wurde mit Schimpf und Schande aus dem Hause gewiesen. Das war der Grund, weshalb er dann eine so schlechte Nacht und einen so schlechten Morgen hatte, allen Verstand verlor und zuletzt beinah geisteskrank auf die Straße lief.
    Kolja begriff immer noch nicht, was eigentlich vorging, und hoffte sogar, durch Strenge etwas bei seinem Vater zu erreichen.
    »Na, was denken Sie nun, wohin wir unsere Schritte lenken sollen, General?« fragte er. »Zum Fürsten wollen Sie nicht, mit Lebedew haben Sie sich verzankt, Geld haben Sie nicht, und ich habe nie welches: da sitzen wir nun auf dem trockenen, mitten auf der Straße.«
    »Man sitzt angenehmer im Trockenen als auf dem trockenen«, murmelte der General. »Mit diesem Wortspiel habe ich Begeisterung erregt... in einer Offiziersgesellschaft... im Jahre vierundvierzig... Im Jahre tausend... achthundert... vierundvierzig, ja!... Ich entsinne mich nicht... Oh, erinnere mich nicht daran, erinnere mich nicht daran! ›Wo ist meine Jugend, meine Frische!‹ wie jemand ausrief ... Wer hat das doch ausgerufen, Kolja?«
    »Das kommt bei Gogol in den ›Toten Seelen‹ vor, Papa«, antwortete Kolja und schielte ängstlich nach dem Vater hin.
    »Tote Seelen! O ja, tote Seelen! Wenn du mich begraben läßt, dann schreib auf mein Grab: ›Hier ruht eine tote Seele!‹
    Der Schande kann ich nicht entrinnen!
    Wer hat das gesagt, Kolja?«
    »Das weiß ich nicht, Papa.«
    »Jeropegow soll nicht existiert haben? Jeroschka Jeropegow!...« rief er ganz außer sich und blieb auf der Straße stehen. »Und das ist mein Sohn, mein leiblicher Sohn! Jeropegow, ein Mann, der elf Monate lang wie ein Bruder mit mir zusammen gelebt hat, für den ich zu einem Duell gegangen bin ... Fürst Wygorezkij, unser Hauptmann, sagte zu ihm, als wir bei der Flasche saßen: ›Du, Grischa, wo hast du denn deinen Anna-Orden erworben? Das möchte ich wirklich wissen.‹ – ›Auf den Schlachtfeldern meines Vaterlandes, da habe ich ihn erworben!‹ Ich rief: ›Bravo, Grischa!‹ »Ich weiß nicht, ich weiß nicht, wer so gerufen hat! Kommen Sie gleich nach Hause, gleich! Ich werde Ganja durchprügeln, wenn es nötig ist ... Aber wo wollen Sie denn wieder hin?«
    Der General schleppte ihn nach der Freitreppe eines nahen Hauses.
    »Wo wollen Sie hin? Das ist ein fremdes Haus!«
    Der General setzte sich auf die Stufen und zog Kolja immer an der Hand zu sich heran.
    »Bück dich, bück dich!« murmelte er. »Ich will dir alles sagen... die Schande... bück dich... mit dem Ohr, mit dem Ohr, ich will es dir ins Ohr sagen...«
    »Aber was ist Ihnen denn?« rief Kolja ganz erschrocken, hielt aber doch sein Ohr hin.
    »Le roi de Rome...«, flüsterte der General, der ebenfalls am ganzen Leibe zitterte.
    »Was?... Was haben Sie nur mit Ihrem roi de Rome?...«
    »Ich... ich...«, flüsterte der General wieder, indem er sich immer fester an die Schulter seines Sohnes klammerte, »ich... will... ich will dir... alles... Marja, Marja... Petrowna Su-su-su...«
    Kolja riß sich los, faßte selbst den General bei den Schultern und blickte ihn an wie ein Irrsinniger. Der Alte wurde dunkelrot, seine Lippen färbten sich bläulich, leichte, krampfhafte Zuckungen liefen über sein Gesicht. Auf einmal bog er sich zusammen und begann sachte in Koljas Arme zu sinken.
    »Ein Schlaganfall!« rief dieser über die ganze Straße hin, da er endlich gemerkt hatte, um was es sich handelte.
V
    Um die Wahrheit zu sagen, Warwara Ardalionowna hatte in dem Gespräch mit ihrem Bruder die Zuverlässigkeit ihrer Nachrichten über die Verlobung des Fürsten mit Aglaja Jepantschina ein wenig übertrieben. Vielleicht sah sie als scharfsichtige Frau das voraus, was in naher Zukunft geschehen mußte, vielleicht hatte sie sich auch darüber geärgert, daß der schöne Zukunftstraum (an den sie übrigens, um die Wahrheit zu sagen, selbst nicht geglaubt hatte) wie ein Rausch zerflattert war, und konnte sich nun, was ja nur menschlich ist, das Vergnügen nicht versagen, durch Übertreibung des Mißgeschicks noch mehr Gift in das Herz ihres Bruders zu gießen, den sie übrigens aufrichtig liebte und bemitleidete. Aber jedenfalls hatte sie unmöglich von ihren Freundinnen, den Fräulein Jepantschin, so bestimmte Nachrichten erhalten können; es lagen nur Andeutungen, halb ausgesprochene Worte, bedeutsames Stillschweigen und rätselhafte Redewendungen

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