Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Idiot

Der Idiot

Titel: Der Idiot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fjodor M. Dostojewskij
Vom Netzwerk:
zugleich. Besondere Freude machte es den zu ihr hinlaufenden Kindern und namentlich den kleinen Mädchen, ihr mitzuteilen, daß ich sie, Marie, liebte und sehr viel mit ihnen von ihr spräche.
    Sie berichteten ihr, daß ich ihnen alles erzählt hätte, und daß sie sie jetzt sehr liebhätten und bemitleideten und ihr immer treu bleiben würden. Dann kamen sie zu mir gelaufen und erzählten mir mit Gesichtchen, die von freudigem Eifer strahlten, sie hätten soeben mit Marie gesprochen und sie lasse mich grüßen. Abends ging ich oft nach dem Wasserfall; dort befand sich ein nach dem Dorfe zu ganz verdeckter Platz, um den herum Pappeln standen; da versammelten sich die Kinder abends um mich, manche liefen sogar heimlich aus dem Dorfe weg. Ich glaube, ihr ganz besonderes Entzücken war meine Liebe zu Marie, und dies war während meines ganzen dortigen Aufenthaltes der einzige Punkt, in dem ich sie täuschte. Ich ließ ihnen den Glauben, daß ich Marie liebte, das heißt in sie verliebt sei, und sagte ihnen nicht, daß ich sie in Wirklichkeit nur sehr bemitleidete; ich sah an allem, daß es ihnen besser so gefiel, wie sie sich das selbst ausgedacht und untereinander zurechtgelegt hatten, und darum schwieg ich und tat, als hätten sie es erraten. Und wie feinfühlig und zärtlich waren diese kleinen Herzen: unter anderm meinten sie, das dürfe doch nicht sein, daß ihr guter Léon Marie so liebe und diese Marie so schlecht gekleidet sei und keine Schuhe habe. Denken Sie sich, sie beschafften ihr Schuhe und Strümpfe und Wäsche und sogar einige Kleidungsstücke; auf welche kluge Weise sie das zustande brachten, ist mir unbegreiflich; der ganze Schwarm wirkte dabei zusammen. Wenn ich sie darüber befragte, lachten sie nur lustig, und die kleinen Mädchen klatschten in die Hände und küßten mich. Manchmal ging auch ich heimlich zu Marie. Sie war schon sehr krank und konnte kaum noch gehen; schließlich war es ihr gar nicht mehr möglich, dem Hirten irgendwelche Dienste zu leisten, aber sie zog doch jeden Morgen mit der Herde aus. Sie setzte sich abseits hin; es war da an einem abschüssigen, beinah senkrechten Felsen ein Vorsprung; dort setzte sie sich ganz in der Ecke, wo niemand sie sehen konnte, auf einen Stein und saß da fast regungslos den ganzen Tag, vom frühen Morgen bis zu der Stunde, wo die Herde heimging. Sie war infolge der Schwindsucht schon so schwach, daß sie meist mit geschlossenen Augen, den Kopf gegen den Felsen gelehnt, dasaß und, mühsam atmend, halb schlummerte; ihr Gesicht war mager geworden wie bei einem Skelett, und an Stirn und Schläfen trat ihr der Schweiß hervor. In diesem Zustand fand ich sie immer. Ich kam stets nur auf einen Augenblick und wünschte auch nicht, von den Leuten gesehen zu werden. Sobald ich mich zeigte, fuhr Marie sofort zusammen, öffnete die Augen und stürzte auf mich zu, um mir die Hände zu küssen. Ich entzog sie ihr nicht mehr, weil sie dies als ein Glück empfand; die ganze Zeit über, während ich bei ihr saß, zitterte und weinte sie; einige Male versuchte sie allerdings auch zu reden; aber es war schwer, sie zu verstehen. Vor Aufregung und Entzücken war sie wie von Sinnen. Mitunter kamen auch die Kinder mit; sie stellten sich dann gewöhnlich in der Nähe auf und bewachten uns vor irgend etwas und vor irgend jemand, und das war für sie ein ganz besonderes Vergnügen. Wenn wir fortgingen, blieb Marie wieder allein, regungslos wie vorher, mit geschlossenen Augen, den Kopf an den Felsen gelehnt; vielleicht träumte sie von irgend etwas. Eines Tages war sie am Morgen nicht mehr imstande, zu der Herde hinauszugehen, und blieb in ihrem leeren Haus. Die Kinder erfuhren es sogleich und kamen an diesem Tage fast alle zu ihr gelaufen, um sie zu besuchen; sie lag mutterseelenallein in ihrem Bett. Zwei Tage lang waren es nur die Kinder, die sie pflegten, indem sie abwechselnd hinkamen; aber als dann im Dorfe bekannt wurde, daß Marie wirklich schon im Sterben liege, stellten sich auch die alten Frauen aus dem Dorfe bei ihr ein, saßen an ihrem Lager und pflegten sie. Es schien, daß man im Dorfe mit Marie Mitleid zu fühlen begann, wenigstens hielt man die Kinder nicht mehr zurück und schalt sie nicht mehr wie früher. Marie lag die ganze Zeit im Halbschlummer, der aber infolge des furchtbaren Hustens sehr unruhig war. Die Kinder aber wurden von den alten Frauen fortgejagt, kamen aber doch ans Fenster gelaufen, manchmal nur auf einen Augenblick, nur um zu sagen:

Weitere Kostenlose Bücher