Der Idiot
irgendwie wegzuschaffen, wenn auch nur auf einige Zeit, und ihn womöglich sogar aus Petersburg verschwinden zu lassen, mochte nun die Mutter damit einverstanden sein oder nicht. Als vor zehn Minuten Nastasja Filippowna eingetreten war, hatte ihn das dermaßen überrascht und betäubt, daß er an die Möglichkeit des Erscheinens seines Vaters auf der Bildfläche überhaupt nicht gedacht und keinerlei Anordnungen in dieser Hinsicht getroffen hatte. Und nun stand der General auf einmal da, vor aller Augen, und noch dazu in feierlicher Toilette, im Frack, und gerade in dem Augenblick, wo Nastasja Filippowna nur eine Gelegenheit suchte, um ihn und seine Angehörigen mit ihrem Spott zu überschütten. (Denn daß dies ihre Absicht war, davon war er überzeugt.) Und in der Tat, welche andere Bedeutung hätte ihr jetziger Besuch haben können? War sie gekommen, um mit seiner Mutter und mit seiner Schwester Freundschaft zu schließen, oder um sie in seinem eigenen Hause zu beleidigen? Aber nach der Haltung, die beide Parteien eingenommen hatten, war kein Zweifel mehr möglich: seine Mutter und seine Schwester saßen wie entehrt abseits, und Nastasja Filippowna schien ganz vergessen zu haben, daß beide sich mit ihr in demselben Zimmer befanden ... Und wenn sie sich so benahm, so hatte sie sicherlich dabei ihre Absicht!
Ferdyschtschenko faßte den General bei der Hand und führte ihn näher heran.
»Ardalion Alexandrowitsch Iwolgin«, sagte der General würdevoll und verbeugte sich lächelnd, »ein alter unglücklicher Soldat, der Vater dieser Familie, die sich glücklich fühlt in der Hoffnung, ein so reizendes neues Mitglied in ihren Schoß ...«
Er konnte den Satz nicht zu Ende sprechen, Ferdyschtschenko schob ihm schnell von hinten einen Stuhl hin, und der General, der um diese Nachmittagsstunde etwas unsicher auf den Beinen war, setzte sich oder fiel vielmehr mit dumpfem Geräusch auf den Stuhl nieder, was ihn übrigens nicht weiter verlegen machte. Er saß Nastasja Filippowna gerade gegenüber und führte mit einer anmutigen »Liebe Frau, liebe Frau«, sagte er vorwurfsvoll, indem er sich würdevoll zu ihr hinwandte und die Hand aufs Herz legte.
»Wollen Sie nicht hinausgehen, Mamachen«, fragte Warja laut.
»Nein, Warja, ich will bis zu Ende hierbleiben.«
Nastasja Filippowna mußte die Frage und die Antwort gehört haben, aber ihre Heiterkeit schien dadurch nur noch vergrößert zu werden. Sie überschüttete den General sofort wieder mit Fragen, und fünf Minuten darauf befand sich dieser in höchst gehobener Stimmung und erging sich unter dem lauten Gelächter der Anwesenden in längeren Tiraden.
Kolja zupfte den Fürsten am Rockschoß.
»Führen doch Sie ihn weg! Das darf nicht so weitergehen! Tun Sie uns doch den Gefallen!« Dem armen Jungen funkelten Tränen der Entrüstung in den Augen. »Oh, der nichtswürdige Ganjka!« fügte er für sich hinzu.
»Mit Iwan Fjodorowitsch Jepantschin war ich tatsächlich eng befreundet«, erwiderte der General redselig auf Nastasja Filippownas Fragen. »Ich, er und der verstorbene Fürst Nikolai Lwowitsch Myschkin, dessen Sohn ich heute nach zwanzigjähriger Trennung wieder umarmt habe, wir waren drei unzertrennliche Kameraden, sozusagen eine Kavalkade wie Athos, Portos und Aramis. Aber leider liegt der eine von uns im Grabe, von Verleumdungen und von einer Kugel zu Tode getroffen, und der zweite, der hier vor Ihnen sitzt, hat noch immer mit Verleumdungen und Kugeln zu kämpfen ...«
»Mit Kugeln?« rief Nastasja Filippowna aus.
»Sie sitzen hier in meiner Brust; ich habe sie vor Kars erhalten, und bei schlechter Witterung spüre ich sie. In allen anderen Beziehungen lebe ich wie ein Philosoph, gehe spazieren, spiele in meinem Café Dame wie ein Bourgeois, der sich von den Geschäften zurückgezogen hat, und lese die ›Indépendance‹. Aber mit unserem Portos, dem General Jepantschin, bin ich infolge einer Geschichte, die sich vor zwei Jahren mit einem Bologneserhündchen zutrug, völlig auseinandergekommen.«
»Mit einem Bologneserhündchen! Wie hängt denn das zusammen?« fragte Nastasja Filippowna äußerst neugierig. »Mit einem Bologneserhündchen? Erlauben Sie, und auf der Eisenbahn! ...« Sie schien etwas in ihrem Gedächtnis zu suchen.
»Oh, es ist eine dumme Geschichte, die nicht verdient, daß man sie noch einmal erzählt. Es handelt sich dabei um eine Mrs. Smith, eine Gouvernante der Fürstin Bjelokonskaja, aber ... es lohnt nicht die Mühe, es zu
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