Der Idiot
entstanden und das zweitemal wegen der Frage, welche Jahreszeit zum Zeisigfang die geeignetste sei. So unwahrscheinlich es klingen mag, aber die Generalin schickte ihm am dritten Tage nach dem Streit durch einen Diener ein Briefchen zu, in dem sie ihn dringend bat, wieder hinzukommen; Kolja sträubte sich nicht, sondern stellte sich sofort ein. Nur Aglaja zeigte sich ihm aus einem nicht recht verständlichen Grund dauernd nicht wohlgeneigt und behandelte ihn sehr von oben herab. Und doch sollte er gerade sie in Erstaunen versetzen. Eines Tages – es war in der Osterzeit – paßte Kolja einen Augenblick ab, wo er mit Aglaja allein war, und übergab ihr einen Brief, wobei er nur bemerkte, er sei angewiesen, ihn ihr unter vier Augen zuzustellen. Aglaja warf dem »eingebildeten Jungen« einen strengen Blick zu, aber Kolja wartete Weiteres nicht ab und ging hinaus. Sie öffnete den Brief und las:
»Sie haben mich früher einmal Ihres Vertrauens gewürdigt. Vielleicht haben Sie mich jetzt ganz vergessen. Wie kommt es, daß ich an Sie schreibe? Ich weiß es nicht, aber es wurde in mir ein unüberwindliches Verlangen rege, mich Ihnen, gerade Ihnen, ins Gedächtnis zurückzurufen. Wie oft hatte ich Sie alle drei dringend nötig, aber ich sah von Ihnen allen dreien immer nur Sie allein. Ich habe Sie nötig, dringend nötig. Von mir selbst habe ich Ihnen nichts zu schreiben und nichts zu erzählen. Das war auch gar nicht meine Absicht; ich wünsche nur von ganzem Herzen, daß Sie glücklich sein möchten. Sind Sie glücklich? Nur das wollte ich Ihnen sagen.
Ihr Bruder Fürst L. Myschkin.«
Als Aglaja diesen kurzen und recht sinnlosen Brief las, wurde sie plötzlich dunkelrot und versank in Nachdenken. Es würde uns schwer sein, den Gang ihrer Gedanken aufzuzeichnen. Unter anderm fragte sie sich: ›Soll ich den Brief jemandem zeigen?‹ Sie schämte sich gewissermaßen. Schließlich warf sie den Brief mit einem sonderbaren, spöttischen Lächeln in den Schubkasten ihres Nähtisches. Am folgenden Tage nahm sie ihn wieder heraus und legte ihn in ein dickes, stark in Halbfranz gebundenes Buch (so machte sie es immer mit ihren Briefschaften, um sie recht schnell zu finden, sobald sie sie gebrauchte). Erst eine Woche darauf sah sie zufällig, was es eigentlich für ein Buch war, in dem dieser Brief lag. Es war der »Don Quijote de la Mancha«. Aglaja lachte laut auf; es ist schwer zu sagen, warum.
Auch wissen wir nicht, ob sie den Brief einer ihrer Schwestern zeigte.
Aber gleich bei der Lektüre des Briefes war ihr der Gedanke durch den Kopf gegangen: ›Hat sich denn wirklich der Fürst diesen eingebildeten, großtuerischen Jungen dazu ausersehen, mit ihm Briefe zu wechseln, und ist dieser Junge vielleicht am Ende gar der einzige Mensch, mit dem der Fürst hier in Korrespondenz steht?‹ So setzte sie denn eine sehr geringschätzige Miene auf und unterwarf Kolja einem Verhör. Aber der sonst immer sehr empfindliche »Junge« beachtete diesmal ihre Geringschätzung nicht im mindesten; sehr kurz und in recht trockenem Tone erklärte er der Fragerin, er habe zwar bei der Abreise des Fürsten von Petersburg diesem für alle Fälle seine ständige Adresse mitgeteilt und ihm dabei seine Dienste angeboten; aber dies sei der erste Auftrag, den er von ihm empfangen habe, und das erste Schreiben an ihn, und zum Beweise der Wahrheit des Gesagten zeigte er ihr auch den Brief, den er selbst von dem Fürsten erhalten hatte. Aglaja machte sich kein Gewissen daraus, ihn zu lesen. In diesem Briefe an Kolja stand:
»Lieber Kolja, seien Sie so gut, den hier beiliegenden Brief an Aglaja Iwanowna abzugeben. Lassen Sie sich's gut gehen.
Ihr Sie liebender Fürst L. Myschkin.«
»Es ist doch komisch, daß er sich einen solchen Knirps zum Vertrauten aussucht«, bemerkte Aglaja in beleidigendem Ton, gab Kolja den Brief zurück und ging verächtlich an ihm vorbei.
Das war nun doch mehr, als Kolja ertragen konnte. Und er hatte noch gerade für diesen Besuch seinen Bruder Ganja, ohne ihm den Grund zu erklären, gebeten, ob er nicht dessen noch ganz neue grüne Krawatte umbinden dürfe! Er fühlte sich bitter gekränkt.
II
Es war Anfang Juni, und das Wetter war in Petersburg schon eine ganze Woche lang außerordentlich schön gewesen. Jepantschins besaßen ein prächtiges eigenes Landhaus in Pawlowsk. Lisaweta Prokofjewna wurde auf einmal unruhig und drängte zum Aufbruch; nach kaum zwei Tagen geschäftiger Tätigkeit zogen sie um.
Einen oder zwei
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