Der Implex
Koordinationslösungen derselben ohnehin das Äußerungsrecht verspielen, weil es sich bei diesen um keine Meinungen handelt. Das Ziel der Rechtssicherheit (der von Carl Schmitt und seinesgleichen so ungern gelittene »Rechtspositivismus«) schließt aus, daß irgend jemand für nicht Feststellbares wie etwa »das, was gedacht wird«, Repressalien fürchten muß, weil man dergleichen nicht verläßlich feststellen kann (jedenfalls bis heute; was für technische Möglichkeiten die Hirnforschung da zukünftiger Tyrannis erschließen mag, steht auf einem anderen Blatt) – daraus folgt übrigens auch, daß Rortys »Wahrhaftigkeit«, was immer sie sonst sein mag, nicht Rechtsgut sein kann. Das Rechtsgut der Ehre als Gegengewicht zum Rechtsgut der Rede- und Meinungsfreiheit zu instituieren, verrät, wenn man sich denn der Mühe unterziehen möchte zu rekonstruieren, was unter dieser Freiheit überhaupt verstanden wurde: Es sollte eben nicht, wie die Linie von de Maîstre bis Schmitt unterstellt, endlos über was auch immer geredet werden, sondern es wurde von allen Sprechern erwartet, daß zusätzlich zu ihren beliebigen Partikularinteressen im Meinungsportfolio einer und eines jeden als Korrektiv das Interesse vorhanden war, sich nicht unmöglich zu machen – die Absicht, eine Debatte zu beenden, abzuschließen oder gar nicht erst aufkommen zu lassen, die, das ist der entscheidende Punkt, den Aufklärern eben nicht unbekannt war, sondern bei ihnen durchaus vorkam, wurde also etwa mit dem Verweis darauf artikuliert, man entehre sich, wenn man hier und jetzt über dieses oder jenes noch weiterrede – so im französischen Parlament im Februar 1794 beim Streit über die Frage, ob man die Abschaffung der Sklaverei dekretieren solle oder nicht, und der Abgeordnete Levasseur erklärte:
»Als wir die Verfassung des französischen Volkes entwarfen, haben wir der unglücklichen Schwarzen nicht gedacht. Die Nachwelt wird uns dies sehr übel nehmen. Laßt uns dieses Unrecht beseitigen – laßt uns die Freiheit der Schwarzen erklären. Herr Präsident, leiden Sie es nicht, daß sich die Versammlung mit einer Diskussion entehrt!« 113 Daß Diskussionen den Aufklärern und ihrem politischen Arm kein Selbstzweck waren, ja, daß es ihnen nicht einmal um deren Beendigung im bloßen Konsens ging, unabhängig davon, ob das, worüber man sich da einig sein würde, nun wahr ist oder nicht, wird der Rekonstruktion des ganzen Nexus aber spätestens aufgehen müssen, wenn sie sich ins Gedächtnis ruft, daß das epistemische Modell der Gewinnung zutreffender Sätze für alle diese Leute die naturwissenschaftliche Methode sensu Bacon und Newton war und die nicht von Gewalt gestörte Debatte lediglich ein Hilfsmittel zum Datenabgleich, etwa wie der peer review- Prozeß im heutigen wissenschaftlichen Publikationswesen. Indolenz oder Quietismus diesem Programm gegenüber ahndeten sie mindestens so streng wie Zensurbegehrlichkeiten, die »diskussionsbereite Wissenschaftlerin« (um eine Gegenfigur zu Rortys liberaler Ironikerin zu benennen, auf die sich die Aufklärung auch mit jenem Marx hätte verständigen können, der im Vorwort zum Kapital bekanntlich erklärt, »jedes Urteil wissenschaftlicher Kritik« sei ihm willkommen) dachte man sich als nicht erpreßtes und nicht erpreßbares, für seine eigenen Äußerungen verantwortliches und zu deren Begründung entlang der Verknüpfung von Protokollsätzen der Beobachtung und logischen Extrapolationen befähigtes Subjekt – diese Art Verantwortlichkeit, nichts anderes, meint die »Ehre«, als republikanisches Ethos dann die »Tugend«. Anonymes Delirieren in Internetforen, welche Vorteile es beispielsweise als Indikator sich im Gemeinwesen gerade abspielender Phantasieumbrüche auch immer sonst haben mag, wäre von dem, was seinerzeit unter freedom of speech oder liberté de la presse gewagt werden sollte, also gerade nicht gedeckt. Dies mag das entsprechende Denken zur Überholtheit verurteilen – bei den derzeit im Netz obwaltenden Datenschutzverhältnissen ist das Nennen von Klarnamen riskant, da Arbeitgeber, Vermieter und sonstige ökonomische und politische Gewalthaber den Zugriff auf die Meinungs- und andere Bestandteile der Sozialbiographie ihnen Unterworfener in diesem technischen Rahmen leicht erlangen können –, aber es wäre sehr kurz gedacht, würde man diese Überholtheit aus der technischen Veränderung ableiten statt aus der sozialen, daß das nicht erpreßte, nicht erpreßbare
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