Der Implex
Gegenöffentlichkeit, hier schließt sich der Kreis zu den Eröffnungsüberlegungen dieses Kapitels, ist sozusagen an ihren schwächsten Punkten im schlechtesten Sinn dieser Wörter zwar politisch, aber privat, und zwar jeweils maximal so lange, bis sie wieder verschwindet oder, im Sieg, zur wirklichen, etwa bürgerlichen Öffentlichkeit wird – ihre Privatheit hat für Phasen der Restauration, Reaktion oder Repression selbstverständlich auch schützende, rettende Züge, etwa in der zähen Zeit, die für einige Mutige schon nach dem Thermidor, für gemäßigt Aufgeklärte aber spätestens mit der Niederlage Napoleons begann – bis 1789 war der spannende Kampf darum, ob aus der revolutionären Gegenöffentlichkeit nach dem Willen der in ihr aktiven Universalistinnen und Universalisten die neue Weltöffentlichkeit werden würde, noch einer des von den verschiedensten sozialen Positionen aus beobachtbaren Aufstiegs der neuen Klasse und ihrer neuen Ideen gewesen, im 19. Jahrhundert fanden die spannendsten Debatten dagegen nicht auf einem einsehbaren Ideenmarktplatz statt, obwohl sich in dieser Zeit die bürgerliche Zeitungslandschaft erst herausbildete, sondern wurden klandestin und sekludiert, also privat, in Briefnetzwerken erörtert; die von Privatfernsehen, neuer Glasfaserkabelkommunikation und dem Internet mesmerisierte, seit etwa den achtziger und neunziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts übliche, an Namen wie Virilio, Baudrillard, Kittler oder Flusser geknüpfte Mediengeschichtsschreibung und Philosophie allerdings hat den Netzwerkbegriff breiten- und tiefenwirksam verengt auf Endgeräte und technische Vermittlungsgeräte und damit nicht absichtlich, aber leider recht wirkungsvoll die Wahrnehmung langsamerer Netzwerke behindert (selbst die Akteur-Netzwerk-Theorie der jüngeren Sozialwissenschaften lebt noch stark von schnellen bis instantanen Übertragungsraten; einzig unterm Einfluß von Luhmann ist hin und wieder etwas davon zu spüren, daß Netzwerke auch vergleichsweise zeitunabhängig gedacht werden können – Luhmanns kommunikationspositivistische Epoché im berühmten Postulat, nur Kommunikation könne kommunizieren, sieht von Trägerinnen und agency ab und bekommt dank dieser Entsagungsleistung dann Dinge in den Blick, an denen vulgärmaterialistisch-technizistische wie idealistisch-konsensuale Kommunikationstheorien eher vorbeischielen).
Das verbreitete Bild des neunzehnten Jahrhunderts als der Epoche, in der die ökonomische (wo nicht die politische, wie in allen später um die imperialistische Weltbeute einander niedermetzelnden Nationen außer Deutschland) Emanzipation des Bürgertums von der Feudalität im wesentlichen abgeschlossen war und die Fortschritte im technischen und wissenschaftlichen Bereich einer kuriosen Stagnation der Fortschritte im öffentlichen Bewußtsein der Freiheit entsprachen, sieht die Wichtigkeit von Briefen für dieses Jahrhundert im Schwinden begriffen und Zeitungsdruck, Telegraphie als bedeutsamer. Was aber an politisch und kulturell Interessantem dennoch brieflich zirkulierte, war um so bedeutsamer und brisanter 121 – es ist, als ob die Interpenetration des Öffentlichen und des Privaten an dieser für die weitere Bestimmung dessen, was man unter sozialem Fortschritt versteht, wichtigen Schleusenstelle dafür sorgte, daß bürgerliche Rechte privater und öffentlicher Natur einander hilfreich supplementieren konnten – Zeitungen mochten zensiert werden, das Briefgeheimnis schaffte Ausgleich. Intellektuelle wie Barbauld oder George Sand (von der ein Riesenbriefcorpus aus an die 20.000 Briefen erhalten ist), Bakunin und seine Familie, die emigrierten deutschen Achtundvierziger, die ersten internationalen Bünde und Protoparteien der Arbeiterbewegung, die entstehende Sozialdemokratie, die »Damengalerie« der Paulskirche (die zusammen mit Sand und Barbauld als Beleg dafür stehen mag, daß, wie der Salon seit der Hochaufklärung, so auch der Brief ein wichtiges Testlabor der intellektuellen Frauenemanzipation vor der Suffragettenbewegung war) lieferten in Episteln nicht einfach Beiwerk und Kommentar zu den zeitgleich entstehenden geschichtswirksamen Analysen, Theorien, Programmen, sondern zentrale Bestandteile derselben – man muß sich, will man das fassen, nur die blauen Bände anschauen, nicht nur quantitativ, auch qualitativ messend: Es wird sich im Gesamtwerk der beiden Urheber des modernen Sozialismus zum Beispiel schwerlich eine knappere, präzisere
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