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Der Implex

Der Implex

Titel: Der Implex Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dietmar Barbara; Dath Kirchner
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ermöglichte.
    Hermeneutik ist nicht gleich Hermeneutik, Philologie nicht gleich Philologie, Interessen sind nicht egal, und wenn Rorty das dämmert, fällt ihm in seinen letzten Veröffentlichungen dann ein, Philosophie könnte vielleicht doch noch etwas anderes sein als bloße lesende Doxographie, nämlich »Kulturkritik«: Der philologische Traditionsberg kreißt und gebärt ein zahnloses Mäuschen grauer, vage gewordener Geistesgeschichte.
     
    2.) Die subtilere Spielart der gelogenen Wahrheit zeigt ein anderer Franzose, Pierre Bayle: Steht man fürs Geschriebene unter Verfolgungsbedingungen mit seinem Namen, wie dieser als Autor des »Wörterbuchs«, so ist jede ironische Volte, jede ablenkende Trope, jedes stilistische Verwirrspiel legitim, im Sinne einer »Guerilla-Ontologie« (Robert Anton Wilson) nämlich wird die eigene Partei ohnehin erkennen, was gemeint ist, ob die Kritik an der geoffenbarten Religion die Gestalt des Tadels für obskure Sekten oder außereuropäische Glaubenssysteme annimmt (wie noch bei Voltaire in Mahomet ), ob man in eine Diskussion der relativen Vorzüge gekrönter Häupter die Bemerkung einflicht, die Tiere seien wohl doch vernünftiger als die Menschen, oder schließlich einen Haupttext mit frommen Behauptungen spickt, die dann eine nach der anderen im beigeordneten Fußnotendickicht gefällt werden – in der Schreibpraxis der Aufklärung ist, wie sonst nur im Krieg und in der Liebe, alles erlaubt, und wenn man einmal gar nicht umhinkann, die Sachen klar zu sagen, bietet sich immer noch an, ein Verwirrspiel im Betreff der Autorschaft zu veranstalten – als 1690 eine politisch riskante, sich der religiösen Verfolgung der Hugenotten widersetzende »wichtige Warnung an die Flüchtlinge, die nach Frankreich zurückkehren wollen« erschienen war, wußte kein Mensch: Stammte der Text, wie viel Stilistisches und einige Begleitumstände ahnen ließen, von Bayle, der die Autorschaft nicht beansprucht hat, oder von einem Hugenotten namens Daniel Larroque, der später zum Katholizismus konvertierte und behauptete, der Autor zu sein, stammte er von beiden oder jemand drittem? Es ist nie geklärt worden und paßt als realgeschichtliches Rätsel sehr zu den zahlreichen schillernden Ironien Bayles im »historisch-kritischen Wörterbuch«. Wie heute die praktisch-politische Theologie einiger Islamisten die eigene Religion so auslegt, daß gegenüber Nichtgläubigen, ob Strafverfolger oder nicht, jede Lüge erlaubt sei, so handelten auch die Vernunftverfechterinnen der lumière- Blüte nach der Maxime »Die Wahrheit nur denen, die sie verdienen«, eine unmittelbare Konsequenz der Spannung, unter der ihr Öffentlichkeitsmodell zwischen den Polen »Forum des Richtigen« und »Kampfplatz für Kritik und Demontage des falschen Bestehenden«, worin auch bereits der Keim einer Verdopplung von Öffentlichkeit überhaupt lag, nämlich in klassische Öffentlichkeit (die Republik der Ideen, mit Existenzerlaubnis seitens des bürgerlichen Staates versehen – soweit dieser aufgeklärt war: durchaus auch radikaler Ideen) einerseits und Gegenöffentlichkeit (Ideen, die zunächst die Öffentlichkeit, dann das sie unterhaltende Gemeinwesen ändern wollen) andererseits, deren Geschichte seit Héberts Père Duchesne und Marats Ami du Peuple eng mit einer sowohl benjaminische wie McLuhansche Züge tragenden Medienfiliation verbunden ist und ihre vorletzte Verjüngung (die vorerst letzte vor unserer Arbeit an diesem Buch, vorbehaltlich anderer Entwicklungen, dürfte das Web 2.0 mit sich gebracht haben) durch die kulturrevolutionären Umtriebe der späten sechziger und frühen siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts im Gefolge des universitären free speech movement in den USA um Leute wie Mario Savio erfahren hat.
     
    Befragt man das Internet per Suchmaschine zum Begriff der Gegenöffentlichkeit, stellt sich allerdings schnell heraus, daß der größte Nachteil, an dem nicht staatlich oder vom Markt eingerichtete Foren kranken, ihre Gedächtnisarmut ist, die an den sumpfigsten Stellen geradezu an Geschichtslosigkeit grenzt: Nichts steht da von den Untergrundzirkularen aus der Aufklärungszeit, nichts von Paines Pamphleten, nichts von La Mettrie, Bayle, Hébert oder wenigstens Marat, der Ausdruck »Gegenöffentlichkeit« wird behandelt, als gäbe es die Sache, die er bezeichnet, wirklich erst seit 1968, weil diejenigen, die ihn mit Gehalt füllen, selten Gewalt über die Archive erlangen –

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