Der Implex
Vorrang vor jeder individuellen habe, sondern begreifen, daß ein gesellschaftliches Verhältnis, das, will man überhaupt dazugehören, dazu zwingt, die Sache praktisch genau so zu handhaben, egal, was dazu noch gedacht und gemeint wird, falsch ist. Die Klassen sollen gerade beseitigt werden, im Kampf einer bestimmten Klasse gegen eine andere allerdings, und diejenige, die siegen soll, vertritt darin nichts anderes als die Menschheit, so wie schon in der Französischen Revolution der Bürgerstand die Nation. In Marx steckt mehr Adam Smith, als der Marxismus lange Zeit zugeben wollte; weitergetrieben fand der Verfasser der drei Kapital -Bände sich nur von einer jener Dynamiken, die auch die Aufklärung schüttelte, als sie das, was sie erkämpfen wollte, auch erkämpfen mußte, um überhaupt existieren zu können – politische Emanzipationsgeschichte ist theoretisch wie praktisch zu einem nicht ganz kleinen Anteil immer auch Kampf um die Verbesserung der Kampfbedingungen selbst, was nicht erst Talleyrand auffiel, der bemerkte, daß Revolutionäre durch sich bietende Chancen stärker angestachelt werden als durch Zunahme von Elend und die in Krisentheorien so beliebte Verschärfung von Widersprüchen, die angeblich den Dampfkessel zum Platzen bringt.
Anders als bei Rorty ist den Aufklärern aus solchen gleichsam militärischen Gründen die Wahrhaftigkeit nicht nur niemals wichtiger als die Wahrheit, sondern sie entwickeln, bei aller Liebe zu Transparenz, Luzidität und ähnlichen lichtmetaphorisch beschreibbaren Wesenszügen ihnen sympathischer Argumentation, mitunter einiges Geschick beim Geschäft der Unwahrhaftigkeit, der Täuschung und Finte.
1.) Die gröbere Variante dieser Politik kann man sich anekdotisch anhand der Publikationsgeschichte des Hauptwerks Über das Glück des Erzsensualisten, Neo-Epikureers und Stammvaters des französischen Materialismus La Mettrie klarmachen: Ganz in der Tradition der Humanisten und ihrer Textpolitik, die wir bereits diskutiert haben, hat La Mettrie diese hedonistische Programmschrift in Gestalt einer Polemik gegen Seneca verfaßt, die sich, gerade weil sie die grotesken Zuspitzungen etwa de Sades mit maliziöser Eleganz vermeidet, wann immer sie sich aufdrängen, radikaler liest als jener. La Mettrie konnte nicht ernsthaft damit rechnen, ein so sittenverderberisches, egoistisches, gottloses Werk ohne Gefahr für Leib und Leben zu veröffentlichen; sein (gemäßigter) Aufklärerkollege Maupertuis hatte ihn indes am Hof des aufgeklärten Absolutisten Friedrich II. untergebracht, und dort verfiel La Mettrie auf eine doppelte List: Erstens vermied er es klugerweise, den Text überhaupt als selbständige Veröffentlichung zu planen, sondern übersetzte einfach den von ihm unter Beschuß genommenen altrömischen Moraldenker und gab dieser Ausgabe seine Schrift als Vorwort bei; zweitens aber log er, als sich auch für diese Öffentlichkeitserschleichung mögliche Schwierigkeiten mit der Vorzensur ankündigten, einfach frech, sein königlicher Patron habe die Sache bereits durchgewunken – die Selbstrechtfertigung des Druckers dafür, daß er sich täuschen ließ, ist eine schönere Satire auf den aufgeklärten Absolutismus als selbst das Müller von Sanssouci -Drama von Peter Hacks; La Mettrie habe gesagt,
»daß es Ihro Mayt. Der König gesehen und auf Höchst Deroselben Befehl gedruckt werden sollte, auch der Befehl wegen einer Censur bereits wiederum aufgehoben worden wäre. Welches letztere mir kurtz darauf ebenfalls bekannt gemacht wurde. Ich wagte es daher nicht, in die Versicherung eines Mannes, welcher, als ein Gelehrter der Königl. Academie der Wißenschaften, sich wohl nicht unterfangen würde, dergleichen ohne Grund vorzugeben, einiges Mißtrauen zu setzen; noch weniger unterstund ich mich bei Sr. Mayt. Anfrage zu thun ob das was er gesagt sich so verhalte.« 120
So lustig das ist, steht es doch auch in einer zu diesem Zeitpunkt bereits einigermaßen ehrwürdigen Tradition, derjenigen nämlich, die aus der Philologie und den Auslegungsfreiheiten, die sie logisch wie historisch gewährt, Spielraum für das Widerspiel von Wahrheit und (Selbst-)Täuschung gewinnt, das etwa auch die Naturrechtsbegriffsgeschichte und überhaupt die ganze Aufklärung kennzeichnet – nicht allein hat historisch die Scholastik mit Abaelards Sic et Non und dem Liber Sententiarum des Petrus Lombardus, also der Entdeckung von Widersprüchen in den kanonischen Texten der
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