Der Implex
ist in der unwirklichen Kunst eine bloße Funktion des Glaubens an eine Welt, die ihren metaphysischen Gesetzen in allen Aspekten rigoros gehorchen müßte – das, genau das und nur das, ist das Unwirkliche daran, denn diese Gesetze sind dem Erzähler bekannt, und er muß sich an sie halten, während »das Leben« seine Erzählgesetze bekanntlich umschreiben darf, während es an seiner Erzählung strickt.
Die ständige Abhängigkeit der Erzählabläufe des Unwirklichen von der Finalität, vom Telos der Gesamtkonstruktion (und der davon rückwirkend suggerierten »richtigen Geschichte« des Ganzen), teilt die unwirkliche Idee übrigens – merkwürdig genug – mit einer anderen Sorte Idee, ausgerechnet der traumfernsten, welche die Menschheit kennt: dem sogenannten »Ansatz« im mathematischen Beweis.
Gut oder schlecht, Kurt Gödel oder Mathelehrer an irgendeiner Realschule – die Technik des jeweiligen Beweises gehört zum Handwerk: Arithmetik, Geometrie, Algebra kann man lernen, und hat man sie erlernt, gibt es Verfahren, von der auf Giuseppe Peano zurückgehenden vollständigen Induktion und ihren Gewißheiten über die natürlichen Zahlen bis zum Beweis durch Widerspruch, um etwas sicherzustellen.
Der Ansatz aber, die Entscheidung, für welche Technik man optiert und was der Knackpunkt am zu Beweisenden ist, bleibt dem, der nicht drauf gekommen ist, ein Geheimnis, das nicht dadurch weniger geheimnisvoll wird, daß er sich, einmal gefunden, wörtlich »von selbst versteht« und auch nicht originell noch wertvoll sein muß, um seinen Zweck zu erfüllen: I am the Magicks.
Ellison, King und andere haben sich beschwert, daß die penetranteste, von ihnen am wenigsten wohlgelittene Frage, die bei Autorenlesungen und Signierstunden gestellt wird, lautet: »Wo haben Sie Ihre Ideen her?«
Mathematikern wie Schriftstellern kommen die meisten Beweise für die meisten Sätze ebenso wie die meisten Geschichten über die meisten Ideen – auch dann, wenn sie diese Dinge im einzelnen so noch nie gesehen haben – »irgendwie bekannt vor«.
Die Welt der unwirklichen Genres hat noch in keinem Jahr, in dem wir ihre Entwicklung haben verfolgen dürfen, irgend etwas hervorgebracht, das unvordenklich neu gewesen wäre.
In der Physik, der Biologie, der Astronomie und allen anderen, nach Popperschen Kriterien nicht beweisfähigen Wissenschaften ist das anders: Dort findet man noch immer, was keiner je gesehen hat.
Woher kommt dieser Unterschied zwischen der Ewigkeit und Wiedererkennbarkeit des Unwirklichen auf der einen, des Empirischen und Einzelwissenschaftlichen auf der anderen? Warum überrascht uns die Wirklichkeit, während uns Unwirklichkeit (und ewige Mathesis, in der die Lösungen schon in den Problemen enthalten sein müssen, damit die Deduktion überhaupt möglich wird) immer nur Dinge zeigt, die uns am Ende bekannt vorkommen (»einleuchten«), auch wenn sie uns selbst nie eingefallen wären?
Die Quelle des Unterschiedes ist, daß die Ideen in der Mathematik wie im Genre zwar aus Traditionen stammen und solche fortsetzen, aber zugleich nicht deterministisch, regelhaft, nicht reduzibel und algorithmisch gefunden werden, sondern augenblicksweise, als Setzung, Einschnitt, ohne Vorlauf. Es sind Kierkegaardsche Glaubenssprünge, wie die »suspension of disbelief« beim Publikum, und die fangen immer gleich an: Gesetzt also den Fall …
Sobald so etwas einmal gesetzt ist, spult es eine Welt von sich ab.
Erscheinung und Wesen fallen daher in Beweisansätzen und unwirklichen Ideen jeweils zusammen, ja dieser Effekt genau ist es, den die Mathematiker und Phantasten überhaupt suchen. Denn die mathematischen Sätze, wenn sie beweisbar sind, und die Ideen der unwirklichen Erzählungen sollen ja wie die inneren Gesetze der Magicks in ihrer Geltung durch nichts Erfahrbares mehr erschütterbar sein, frei von den Schlacken der Praxis, der Weltaneignung. Weltkonstruktion ist eben deren Gegenteil. Was die Konstruktion finden will, dauert an »für immer und unter allen Sonnen« (John Ferrar Holms).
Mathematische und unwirkliche Ideen sind, sagen wir daher, notwendig in etwas eingebettet, das wir, Harlan Ellison ebenso folgend wie dem späten Kurt Gödel, aufgrund dieser ihrer Irreduzibilität auf jede Erfahrung, jede Praxis, letztlich: jede Wirklichkeit nicht anders nennen können als: die Wahrheit .
VII.
Das Novum
Waren die guten, schlechten, lebenswichtigen Ideen eigentlich wenigstens irgendwann mal neu?
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