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Der Implex

Der Implex

Titel: Der Implex Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dietmar Barbara; Dath Kirchner
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Rhetorik der sachlichen Kompetenz ist jedoch nicht Exklusivmerkmal dieser Richtung, die mit Ingenieursethos die Erbschaft der Scientific Romance der Verne und Wells angetreten hat. Sie begegnet einem vielmehr gerade auch in der Fantasy und selbst in der dichtesten Dunkelheit: beim Horror.
    Stephen King etwa polemisiert in seinen sämtlichen selbsterläuternden Texten, kaum mehr zu zählenden Vorwörtern, Interviews und Essays, bis hin zur großen Studie Danse Macabre , gegen ausnahmslos alle nicht- oder vor-rationalen, freudianischen, jungianischen, lerntheoretischen, soziopsychologischen oder psychobiologischen Erklärungen, wider jede Suche nach Traumata, Noxen, Komplexen, Archetypen, Heimsuchungen und Prägungen, Automatismen, Inspirationen und Besessenheiten: Sie alle seien unzuständig dafür zu erläutern, warum er schreibt, was und wie er schreibt.
     
    Charles Dickens, der weiter oben bereits als Mythopoet erkannte scheinbare Naturalist reinsten Wassers, steht genau auf der Grenzmarkierung – er, der gegen die Zweckvernunft polemisierte wie wenige Romantiker, aber seine Bücher mit zunehmender Reife plante wie ein Bauhausarchitekt, spielt mit von ihm entwickelten (etwa seriellen) Formen wie Inhalten für die gegenwärtige Gestalt des Unwirklichen in der Popkultur und die individuelle Biographie der meisten seiner großen Künstler von King über den Comicautor Chris Claremont bis Whedon eine kaum zu überschätzende Rolle.
    Die von ihm aufgestellten Maßstäbe und durch ihn kunstfähig gewordenen Tugenden des fähigen Geschichtenerzählers, noch angesichts der abgründigsten Stoffe, des kontrollierten Stilisten und klug kalkulierenden Erzeugers von Atmosphäre, der sich auf sein Vermögen verlassen kann, selbst alles die Alltagserfahrung Übersteigende oder Verletzende als konsumierbaren Text zu organisieren, sind King und seinen Standesgenossen heilig.
    Trotzdem rühren diese Leute nirgends in irgendeinem Sinn die Propagandatrommel für Logos und Ratio als Welterschließungswaffen. Umgekehrt: Selbst die Freunde der striktesten, sich während langer Absätze wie wissenschaftliche Erörterungen ausnehmenden Hard Science-fiction sprechen, wenn sie die Vorzüge des Genres benennen sollen, das sie lieben, wiederum eher vom »Sense of Wonder« als von der wissenschaftlichen Exaktheit, auf die alle Hard SF doch sonst so stolz ist.
     
    Wie schon Dickens in Hard Times mit jeder Zeile, die er über ihn schreibt, den Haß auf jenen positivistischen Herrn Gradgrind erkennen läßt, der den wehrlosen Kindern einbimst, sie sollten sich vor allem nicht wundern, nie staunen und auf keinen Fall anerkennen, daß etwas Unwahrscheinliches geschehen kann, so behaupten die Künstler des Unwirklichen durch den mit bürgerlichem Handwerkerstolz errichteten rationalen Bau ihrer Werke jederzeit den Primat des Möglichen vor dem Wirklichen.
    Das tun sie sowohl defensiv – sie lassen sich in der Schilderung ihrer planmäßigen Unglaubwürdigkeiten durch keinen common sense beirren – wie offensiv: Derselbe Stephen King, der sich, wo immer er danach gefragt wird, seine unbedingte handwerkliche Gewissenhaftigkeit und insofern einen intakten Realitätssinn bescheinigt, verkündet im Vorwort der Erzählungssammlung Nightmares & Dreamscapes : »Reality can go take a flying fuck at a rolling doughnut.« 134
    Und Harlan Ellison, einer der zehn wirkmächtigsten und künstlerisch bedeutendsten literarischen amerikanischen Phantasten seit dem Zweiten Weltkrieg, nennt die bei taghellem Bewußtsein angefertigten Lügengespinste der Phantastik in seinem grundlegenden Essay blood/thoughts 135 sogar die einzigen Momente der Wahrheit, die Menschen in einem Leben aus niemals abreißenden Lügen erreichbar sind.
     
    Ellison verkörpert überhaupt den scheinbaren Widerspruch von technischem, instrumentellem Kunstverständnis einerseits, das sich angstlos dem Verdacht aussetzt, letztlich banausisch, vorkünstlerisch bloß zu funktionieren, und geradezu gnostischer Weltauffassung andererseits in seiner Biographie vorbildlich.
    Leute, die sagen oder schreiben, er sei etwas anderes als ein »real writer«, der genau weiß, was er tut, überzieht er schon mal mit Prozeßandrohungen, in seinem essayistischen Schaffen verdammt er Unvernunft, Aberglauben und New Age-»Paralogie« schärfer als der schärfste Popperianer – und läßt doch, wenn’s an die Substanz geht, raunend wissen, daß man gar nicht erst anfangen soll zu schreiben, wenn einem der

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