Der indigoblaue Schleier
doch nichts weiter als ein harmloser Streich, mit dem sie niemandem Schaden zugefügt hatte.
Man hatte ihr den Schleier längst fortgerissen, aber da sie den Kopf und den Blick gesenkt hielt, hatte der Mann, der hinter dem schweren Tisch thronte, ihr Gesicht noch gar nicht gesehen. Sie fragte sich, woher er eigentlich wissen wollte, dass sie nicht Ambadevi war – ihres Wissens hielt diese sich bei ihren Fahrten in die Stadt immer bedeckt. Sollte sie ihn einfach belügen? Wenn sie sich gab wie eine vornehme Dame und alle Anschuldigungen empört von sich wies, würde man sie vielleicht wieder laufen lassen.
»Ihr seid eine Betrügerin.« Der Mann verzog die Lippen zu einem grausamen Lächeln. »Und Ihr seid eine Diebin.«
Woher wusste er das alles? War ausgerechnet heute Ambadevi von ihrer Reise zurückgekehrt? Hatte sie bemerkt, dass einer ihrer blauen Schleier fehlte, und hatte Nayana festgestellt, dass sich in ihrer Börse weniger Münzen befanden als vorher? Hatte Ambadevi daraufhin ihre und Makarands Abwesenheit als Flucht gedeutet und ihnen diese Soldaten auf den Hals gehetzt? Anuprabha liefen Schweißtropfen den Rücken hinab. Ihr Drang, sich zu erleichtern, war inzwischen so stark, dass sie die Oberschenkel eng zusammenpresste.
»Seht mich an«, forderte der Portugiese sie nun auf.
Sie hob den Kopf und schaute ihn unter halb gesenkten Lidern so herzerweichend an, dass er ihr, wenn er wie alle anderen Männer war, augenblicklich verfallen müsste.
Er war nicht wie alle anderen Männer.
Er starrte sie durchdringend an, ohne die kleinste Regung im Gesicht.
»Sollen wir sie nach Hexenmalen absuchen, Senhor?«, fragte eine der Wachen, die bisher schweigend an der Tür gestanden hatten.
»Später!«, fuhr der Mann die Wache unwirsch an.
Carlos Alberto Sant’Ana war wütend. Die Person, die sie aufgegriffen hatten, war definitiv nicht diese Bhavani. Weder hatte sie grüne Augen noch das richtige Alter. Vor ihm stand ein junges Mädchen, kaum älter als 17 Jahre, und es konnte sich unmöglich um die gesuchte Besitzerin des Diamanten handeln, die ja laut ihrer Schwäger zehn Jahre älter sein musste. Und er war sich so sicher gewesen, dass Dona Amba eine vielversprechende Kandidatin war! Allerdings war dieses Mädchen sehr hübsch. Er hatte bei dem Namen »Dona Amba« eine erwachsenere Frau vor Augen gehabt. Nun, er würde seinen Misserfolg bei der Suche nach Bhavani in einen Erfolg verwandeln: Er würde diese Amba höchstpersönlich nach Hexenmalen absuchen und – man wusste ja nie – auch an den intimsten Stellen, an denen eine skrupellose Frau Dinge verbergen konnte, nach Diebesgut suchen.
Ein
Juwel würde er dabei bestimmt finden.
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32
A m Pier herrschte ein großer Tumult. Kräftige, sehnige Männer mit dunkler Haut und in weißen
dhotis
hatten eine Kette gebildet und trugen einen unordentlich aufgeschichteten Berg ab: Gepäck, Lebensmittel und Frachtgut mussten im Unterdeck des Schiffes verstaut werden. Die Männer, die mit nacktem Oberkörper arbeiteten, waren schweißüberströmt. Doch sie hoben die Kisten, Fässer, Säcke, Holz- und Ledertruhen mit einem unerschütterlichen Rhythmus, der keine Müdigkeit erkennen ließ. Im Innern des Schiffes sorgten, wie Miguel wusste, eigens ausgebildete Stauer dafür, dass die Sachen sicher festgezurrt und so plaziert wurden, dass sie dem Schiff keine Schlagseite bescheren würden. Zugleich mussten sie die Fracht so verstauen, dass sie in der Reihenfolge, in der sie gelöscht wurde, zugänglich war. Es war eine anspruchsvolle Aufgabe, und schon so manches Stückgut war viel zu spät an seinem Bestimmungsort angekommen, weil ein schlechter Stauer es unauffindbar unter Bergen von Lebensmittelfässern versteckt hatte.
Miguel stand am Anleger und genoss das Durcheinander. Passagiere und Matrosen, Händler und Schaulustige drängten sich dicht an dicht, alle gleichermaßen fasziniert von dem Spektakel, das die bevorstehende Abfahrt der großen Galeone bot, die als eines der modernsten und schnellsten Schiffe der Welt gerühmt wurde. Und dann waren da noch die, welche gekommen waren, um ihre Lieben zu verabschieden. So wie Miguel. Heute reisten die Mendonçãs nach Lissabon ab. Álvaro war bereits in See gestochen, ein Umstand, den seine Mutter mit einem lachenden und einem weinenden Auge hingenommen hatte. »Wenn eines der Schiffe sinkt, dann geht wenigstens nicht die ganze Familie unter«, hatte Dona Assunção gescherzt.
Und so standen jetzt rechts
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