Der indigoblaue Schleier
seine Männer ebenfalls, und an Informationen war der dummen Kuh eh nichts zu entlocken gewesen, höchstwahrscheinlich deshalb, weil sie wirklich nichts wusste. Erstaunlich, dass sich hinter einem so hübschen Äußeren ein so dürftiger Geist verbarg. Er streckte die Hand nach dem Beutel aus, doch Miguel zog ihn schnell fort.
»Nicht so eilig. Du erhältst ein Drittel der Summe jetzt, ein Drittel bei der Freilassung des Mädchens und das letzte Drittel, wenn ich sicher sein kann, dass du mir nicht deine Henkersknechte auf den Hals hetzt.«
»Fragst du dich nicht auch gelegentlich«, lenkte Carlos Alberto ab, um nicht allzu hastig in den Handel einschlagen zu müssen, »wie es geschehen konnte, dass unsere vielversprechende Freundschaft so schnell zerbrochen ist?«
»Nein. Nicht mehr. Die Isolation auf einem Schiff kann sonderbaren Allianzen Vorschub leisten. Was ist nun? Zieh dich endlich fertig an und komm mit mir zum Kerker, und zwar hurtig, sonst verfällt mein Angebot.«
Schweigend knöpfte Carlos Alberto ein Samtwams zu, das für das Klima alles andere als geeignet war, ihn aber sehr vornehm aussehen ließ. Er quetschte sich in die zu engen Schuhe, dann rief er nach einem Diener. Ein magerer Junge flitzte herbei. »Putz mir die Schuhe«, befahl er ihm.
Miguel war fasziniert davon, wie viel Zeit Carlos Alberto in seine Garderobe investierte. Bei einem gehobenen Anlass, ja, bei einem Fest oder dem Besuch bei einer hochgestellten Persönlichkeit, da würde auch er sich Gedanken über seine Kleidung machen. Aber war es in diesem Moment notwendig, kostbare Zeit zu verschwenden, wenn ihr Gang sie doch nur in den schmutzigen Kerker führen würde?
Kurz bevor sie das Haus verließen, streckte Carlos Alberto die mit der Innenfläche nach oben zeigende Hand aus und schaute Miguel auffordernd an. »Ein Drittel jetzt, richtig?«
Miguel zählte die Münzen in den Handteller, ohne ein Wort zu sagen.
Wenig später saßen sie in einer Kutsche, die sie zum Gefängnis brachte. Während der ganzen Fahrt schwiegen beide. Jeder schaute auf seiner Seite aus dem Fenster und hing seinen Gedanken nach. Ohne es zu wissen, grübelten sie über erstaunlich ähnliche Dinge nach: Was hatte es mit diesem Mädchen auf sich, dass man sie aus der Haft freikaufte? War sie wirklich nur ein einfaches Dienstmädchen? Wer oder was steckte in Wahrheit dahinter?
Miguel nahm sich vor, Dona Amba beim nächsten Mal mit mehr Nachdruck danach zu fragen.
Carlos Alberto nahm sich vor, Miguel unauffällig beschatten zu lassen.
[home]
35
D er Monsun kam pünktlich, aber mit unerwarteter Heftigkeit. Der Mandovi und seine Nebenarme schwollen schneller an, als die Menschen ihr Hab und Gut in Sicherheit bringen konnten. Außerhalb der Stadt waren die Wege unpassierbar geworden, Schlammbäche ergossen sich bis in die Hütten, in denen die Arbeiter und Bauern lebten. In der Stadt stand das Wasser knöchelhoch. Die Abwasserkanäle flossen über, es stank allenthalben nach Kloake. Wer nicht unbedingt vor die Tür musste, blieb daheim und verrammelte Fenster, Türen und Dachluken.
Zusammen mit den sintflutartigen Regenfällen war auch ein Sturm aufgekommen, der nur nachts ein wenig abflaute, tagsüber aber eine Woche lang konstant an Fensterläden und Schindeln zerrte. Bäume wurden entwurzelt, lose Zweige und Äste wurden von dem Wind so heftig durch die Luft gewirbelt, dass man achtgeben musste, nicht von einem solchen Geschoss getroffen zu werden. Die Bauern gingen nicht mehr auf die Felder, Fischer fuhren nicht aufs Meer hinaus. Geschäfte blieben geschlossen, und Märkte fielen aus. Das gesellschaftliche Leben kam zum Erliegen.
Miguel war froh, dass er seine Mission im Auftrag Dona Ambas erfüllt hatte. Das Mädchen war, nicht unbedingt wohlbehalten, aber wenigstens lebendig, wieder daheim, wo es nun seine Wunden lecken konnte. In den nächsten Monaten würde Miguel sich weitere Besuche bei Dona Amba sparen. Es war bei diesen Witterungsverhältnissen sehr aufwendig, zu ihr zu gelangen. Außerdem wäre es besser, ihr eine Weile nicht unter die Augen zu treten. Er hatte sich ihre ewige Verachtung zugezogen, als er sie darum gebeten hatte, ihr Gesicht sehen zu dürfen. Heute bedauerte er, dass er diesen Wunsch je geäußert hatte, aber nun war es passiert. Ihr Blick war derart verächtlich gewesen, dass er sich vorgekommen war wie die niedrigste Lebensform auf Erden, geringer noch als ein Wurm.
Wie bereits im Vorjahr nutzte er die Regenzeit, um sich um
Weitere Kostenlose Bücher