Der indigoblaue Schleier
den Vorschlag des Jungen zwar frech, war aber neugierig geworden. »Was meinst du damit?«
»Ich meine, mit Zahlen und Bildern habt Ihr offensichtlich keine Schwierigkeiten. Aber wie verhält es sich zum Beispiel mit Versen? Könnt Ihr die auch so schnell auswendig hersagen?«
»Nein, kann ich nicht. Und wir können es ja schlecht üben, da es außer mir niemanden in diesem Haus gibt, der lesen kann und somit befähigt wäre, mein Ergebnis zu überprüfen.«
Crisóstomo kratzte erst sich selber am Kopf, dann strich er geistesabwesend über Panjos Kopf, den dieser auf seinen Schoß gelegt hatte, nachdem er von seinem Herrchen ignoriert worden war. »Hm. Das ist wohl wahr. Aber wir könnten Euch ein paar schöne indische Heldenepen erzählen. Der Koch kennt die meisten von ihnen, und er hat sie so oft zum Besten gegeben, dass er sie bestimmt Wort für Wort wiedergeben – und abfragen – kann.«
Miguel hatte keine Lust, sich mit der Dienerschaft gemein zu machen. Wenn erst der Koch in seinem Salon säße, würde es nicht lange dauern, und der Stallbursche bediente sich an seinen Weinbränden oder der Bodenfeger läge in Miguels Bett. Andererseits setzte ihm die Langeweile derartig zu, dass er die Vorstellung, sich indische Heldenepen anzuhören, gar nicht so schlecht fand. Er könnte sich ja in die Küche hocken und dem Koch lauschen, obwohl er seine Dienstboten damit wohl eher erschrecken dürfte. Vermutlich brachte er dadurch das ganze komplizierte Gefüge durcheinander, die Hackordnung, die durch Kaste, Alter, Hautfarbe, Dauer der Beschäftigung und Ähnliches bestimmt wurde. Es würde ein Streit darüber entbrennen, wer neben, vor oder hinter dem Hausherrn sitzen oder stehen durfte. Der Koch würde vor lauter Einbildung über seine eigene Bedeutung das Essen verkochen. Die Diener würden … ach, was machte es schon? Miguel sagte sich, dass er es auf einen Versuch ruhig ankommen lassen könne.
Der Koch brüstete sich, von den Abertausenden von Versen, aus denen das Epos bestand, dreitausend auswendig aufsagen zu können, und bedauerte, dass er seinem Herrn die Geschichte auf Portugiesisch erzählen musste. Dann begann er. Miguel lauschte aufmerksam, begann jedoch schon vor der Jugend Ramas, des Helden der Geschichte, den Faden zu verlieren. Was er in Erinnerung behielt, war, dass Dasharata, der König von Ayodhya, ein Pferdeopfer brachte, um seine allzu lange andauernde Kinderlosigkeit zu beenden. Daraufhin schenkten ihm seine drei Ehefrauen vier Söhne.
An diesem Punkt gab Miguel auf. Die Dienstboten klatschten vor Begeisterung in die Hände und prusteten fröhlich, weil ihr Herr sich außer Rama keinen anderen Namen hatte merken können. Ein merkwürdiger Kauz, der Miguel-sahib, dass er sich zwar Reihen von Hunderten von Zahlen merken konnte, aber nicht so einfache Dinge wie die, dass Koushalya Rama gebar, Kaikeyi Bharata zur Welt brachte und Sumitra die Mutter der Zwillinge Lakshmana und Shatrughana war. Aber was sollte man schon von einem Mann halten, der sich nicht einmal die Allerweltsnamen seiner Diener merken konnte, so dass Pavindra, Ganaraj und Lokpraksh sich mit simplen Spitznamen rufen lassen mussten.
»Wir werden ein anderes Mal fortfahren«, beschied Miguel dem Koch, Govind, der ihn beleidigt ansah. »Oh, nichts gegen deine wunderbare Art zu erzählen, mein lieber, ähm, Gogo, im Gegenteil: Ich möchte das Vergnügen, dir zu lauschen, so lange wie möglich genießen. Der Monsun dauert ja noch ein paar Monate – ich denke, in dieser Zeit gelangen wir bis zur Mannwerdung Ramas, oder?«
Der Koch war völlig immun gegen jedwede Ironie. »Ja, Senhor, ich denke, bis zur Hochzeit von Rama und Sita, der Tochter des Königs von Videha, Janaka, werden wir wohl kommen. Aber die wirklich aufregenden Dinge passieren erst danach, als nämlich Kaikeyi, Ramas Stiefmutter …«
Miguel bedeutete ihm mit einer Geste, aufzuhören. »Genug, hab Erbarmen mit mir. All diese Namen sind mir zu kompliziert.«
Abermals löste er großes Gelächter unter den Dienstboten aus, das ihm noch lange nachhallte, nachdem er aus der Küche geflüchtet war und Trost bei Panjo suchte, dem der Zugang zur Küche natürlich verwehrt wurde. Ein Gutes hatte es immerhin gehabt: Seine Diener hatten endlich einmal wieder etwas zu lachen gehabt. Er selber hatte nur die Sinnlosigkeit seines Versuchs, die Langeweile des vom Wetter erzwungenen Hausarrests durch ein langatmiges, tausendjähriges indisches Epos zu durchbrechen, erkennen
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