Der indigoblaue Schleier
Spitzenkragen, eine dunkelblaue Kniebundhose, hellblaue Seidenstrümpfe und braune Schnallenschuhe. Er trug wegen der Hitze weder ein Wams noch eine Capa, wenigstens das. Denn alle anderen Kleidungsstücke waren nun über und über mit rotem, gelbem, grünem, violettfarbenem, blauem und roséfarbenem Pulver besprenkelt, und beim Versuch, die Farbe abzuklopfen, hatte Miguel nur erreicht, dass nun auch die Innenflächen seiner Hände bunt waren. Das Zeug haftete an allem, mit dem es in Berührung kam, und wahrscheinlich war es auch beim Waschen nur schwer zu entfernen. Er würde die Kleidung dunkel färben lassen müssen, wenn er sie weiter tragen wollte.
Nachdem sich sein erster Schreck über die Farb-Attacken gelegt hatte, begann er, Gefallen daran zu finden. Ein Straßenhändler bot die Farbpulver in kleinen Baumwollsäckchen feil, und Miguel kaufte ihm drei Beutel ab. Nun bewarf er selber die Leute und stieß laute Jauchzer aus, wenn ihm ein guter Treffer gelang. Er hatte ein diebisches Vergnügen daran, besonders die dunklen Mönchskutten zu verzieren. Es war der einzige Tag des Jahres, an dem man so etwas ungestraft tun konnte, und mancher junge Ordensbruder schien ebenfalls seinen Spaß dabei zu haben.
Die Albernheiten lenkten Miguel vorübergehend von dem ab, was er am Vortag in Erfahrung gebracht hatte: Das Mädchen, Anuprabha, wurde des Diebstahls und der Hochstapelei angeklagt. Immerhin verdächtigte man sie nicht der Ketzerei, denn obwohl Anuprabha beim Aufsagen der zehn Gebote kläglich gescheitert war, hatte man ihre Jugend, ihre Dummheit und ihre offensichtliche Herkunft aus einem anderen Teil Indiens zu ihrer Entlastung gelten lassen. Miguel war erlaubt worden, dem Mädchen einen kurzen Besuch abzustatten. Was er gesehen hatte, war zutiefst erschütternd gewesen. Als er sich die Szene erneut ins Gedächtnis rief, liefen ihm kalte Schauer über den Rücken.
Das Verlies roch nach Schimmel und menschlichen Exkrementen. Es war von Ratten und Ungeziefer verseucht. Die Gefangenen waren auf engstem Raum zusammengepfercht worden, die meisten von ihnen hatten aufgrund der entsetzlichen hygienischen Zustände und der hohen Feuchtigkeit hässliche Geschwüre. Anuprabha, die Miguel als ein hübsches Mädchen beschrieben worden war, hockte in einer Ecke und schaukelte mit dem Oberkörper vor und zurück. Erst nach mehrmaliger Aufforderung kam sie zu dem rostigen Gitter geschlurft, hinter dem ihr Besucher stand. Ihr Blick war glasig, ihre Haut mit eitrigen Schürfwunden übersät, ihr Haar verfilzt. Es fiel Miguel schwer, Mitleid zu empfinden, so groß war sein Ekel vor dieser Gestalt. Es war das erste Mal, dass er einen Kerker von innen sah, und es schockierte ihn über alle Maßen.
Das Mädchen war bei seinem Anblick in unkontrolliertes Zittern ausgebrochen. Wahrscheinlich vermutete sie in ihm einen weiteren Peiniger. Es kostete Miguel viel Überzeugungskunst, ihr klarzumachen, dass er helfen wollte, sie aus dem Gefängnis zu befreien. Schließlich rollten Tränen über ihr schmutziges Gesicht, und sie begann ihm stotternd zu erzählen, was ihr widerfahren war. Es war so ungeheuerlich, dass Miguel vor Wut hätte um sich schlagen mögen. Ein Wärter, der das Gespräch beaufsichtigte, mischte sich ein: »Glaubt der Hure kein Wort. Wer will sich schon mit so einer verdreckten Schlampe amüsieren?« Er lachte hämisch, und Miguel vermutete, dass auch dieser Mann sich an dem Mädchen vergangen hatte.
Nach mehrmaligem Nachfragen gelang es Miguel schließlich, dem Mädchen eine Beschreibung des Mannes zu entlocken, der ihre Verhaftung veranlasst, das Verhör geführt und sie als Erster vergewaltigt hatte. Seinen Namen kannte sie nicht. Er sei Portugiese, sagte Anuprabha, ein noch junger Mann, auf den ersten Blick gar nicht so unansehnlich. Sie wurde von Schluchzern geschüttelt, als sie daran dachte, dass sie dieses Monstrum einmal für gutaussehend gehalten hatte. Als Miguel um eine genauere Beschreibung bat, kam wenig, was ihm einen Hinweis hätte geben können: Er sei mittelgroß gewesen, schlank, dunkelhaarig und in jeder Hinsicht mittelmäßig. Nein, er sei kein Mönch gewesen, und auch kein Priester, jedenfalls habe er normale Kleidung getragen, »solche, wie Ihr sie auch anhabt«. Erschöpft hielt sie inne. Dann, als habe sie die Pause gebraucht, um doch noch eine verwertbare Erinnerung zutage zu fördern, sagte sie matt: »Es wird Euch nicht viel nützen, weil man die Leute ja nie unbekleidet sieht – aber
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