Der indigoblaue Schleier
müssen. Durchhalten, musste seine Devise nun heißen.
Miguel erwachte schweißgebadet, die Bilder seines Traums noch sehr lebendig vor seinem geistigen Auge. Da war ein junger portugiesischer Kaufmann namens Rama gewesen, der sich mit Sita vermählte, einer Prinzessin, die ihn, als sie in der Hochzeitsnacht ihren blauen Schleier ablegte, mit ihrer Schönheit blendete, so dass er fortan als Blinder und als Gefangener seiner Leidenschaft sein Leben fristen musste, wobei ihm ein Hund half, das Leben im Kerker zu meistern, in welchem er und das Tier einen eigenen Koch namens Krishna hatten.
Miguel schüttelte die wirren Bilder ab. Er träumte oft solche Dinge, in die er nicht viel hineindeuten mochte. Es waren, so jedenfalls stellte er sich das vor, Eindrücke, die irgendwo in seinem Hinterkopf hängen geblieben waren und auf diese Weise quasi verdaut wurden. Er stand auf und hüllte sich sofort in seinen Morgenrock. Es war empfindlich kühl geworden. Der Regen prasselte gegen die Fenster und machte auf dem Mosaik aus vielen kleinen Perlmuttscheibchen ein seltsam hohles Geräusch. Miguel hörte das Rauschen der Palmen und fragte sich, wie er das verhasste Geräusch jemals hatte besinnlich oder gar stimmungsvoll finden können.
Heute würde er sich, egal, wie miserabel das Wetter war, in die Stadt begeben, denn hier im Haus würde er sonst durchdrehen. Er erinnerte sich an einen Ausritt im vergangenen Jahr, als er gestürzt und von Dona Amba gerettet worden war. Es schien eine Ewigkeit her zu sein. Ein solches Missgeschick würde ihm nicht noch einmal passieren, er würde diesmal besser aufpassen. Miguel rief nach Crisóstomo und wies ihn an, dem Stallburschen Bescheid zu sagen und dafür zu sorgen, dass er ein kleines Frühstück gebracht bekam. Er wusch sich notdürftig, kleidete sich an und schnürte sich gerade die Stiefel zu, als das Frühstück schon kam. Er schlang es in großer Hast hinunter. Plötzlich war ihm, als dürfe er keine Minute mehr verlieren, obwohl ihn eigentlich keine wichtigen Termine drängten.
»Nehmt Ihr mich mit, Senhor Miguel?«, bettelte Crisóstomo.
»Wozu?«
»Ich mache mir Sorgen um meinen jüngsten Bruder. Er ist, wie Ihr wisst, ganz allein zu Hause, und bei dem Wetter …«
Miguel nickte und hieß den Burschen aufsitzen.
Der Ritt war beschwerlich. Vor lauter Matsch war kaum zu erkennen, wo genau die Straße verlief. Unter ihren vor dem Regen schützenden Capas trotteten sie in monotonem Rhythmus durch die morastige Landschaft. Vor den Hütten im Dorf hockten ein paar Leute unter geflickten Planen und schauten trübsinnig drein. Die Feuerchen brannten nicht richtig. Das Essen brauchte zu lange, um gar zu werden, und die Kleidung wurde überhaupt nicht mehr trocken. Doch die Trostlosigkeit dieser Szenen war gar nichts im Vergleich zu dem, was sie in der Stadt erwartete.
Schon in den Außenbezirken erkannte Miguel, dass eine schwere Cholera-Epidemie wüten musste. Man hatte ihm berichtet, dass die Krankheit in regelmäßigen Abständen die Stadt heimsuchte, die wegen ihrer Lage inmitten der überflutungsgefährdeten Flussarme und Sümpfe während des Monsuns besonders bedroht war. Aber es war das erste Mal, dass er die Katastrophe mit eigenen Augen sah. Am Rand der Straße, die vor lauter Schlamm ebenfalls kaum noch als solche zu erkennen war, hockten die Leute und entleerten ihre Därme. Kinder mit schorfiger Haut blickten ihn traurig aus ihren riesengroßen dunklen Augen an, die alles Elend dieser Welt gesehen zu haben schienen. Frauen mit spitzen Nasen und eingefallenen Wangen trugen halbtote Säuglinge auf dem Arm, und die Anzahl der Verwirrten, die orientierungslos herumliefen, schien sprunghaft angestiegen zu sein.
Miguel band sich ein Taschentuch vor Mund und Nase und bedeutete Crisóstomo, dasselbe zu tun. Es kursierten verschiedene Theorien darüber, wie man sich ansteckte, aber die am weitesten verbreitete war die, dass es über üble Dünste geschah. Er wäre am liebsten wieder umgekehrt, in die Sicherheit und Geborgenheit des Solar das Mangueiras, das ihm auf einmal wie der paradiesischste Ort auf Erden vorkam, dessen Abgeschiedenheit sich nun als Vorteil erwies. Lieber langweilte er sich zu Tode, als dass er sich zu Tode erbrach oder dünnflüssigen Stuhl am Wegesrand absonderte. Aber da er nun einmal hier war, würde er sich zumindest nach dem Wohlergehen seiner Bekannten erkundigen, angefangen bei den Furtados. Er vereinbarte einen Treffpunkt mit Crisóstomo
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