Der indigoblaue Schleier
allmählich Gras, vor allem wohl deswegen, weil sich der Vater zu Tode gegrämt haben soll und daher nicht weiter seine Lügenmärchen verbreiten kann. Ich persönlich denke ja, dass der Mann sich zu Tode gesoffen hat – verzeihe meine ungebührliche, leider aber allzu angemessene Ausdrucksweise – und die arme junge Frau einen anderen Mann übertölpeln konnte. Genau kann ich es Dir aber nicht sagen, wir haben die Sache nicht weiter verfolgt. Ich wünsche mir von ganzem Herzen, mein geliebter Sohn, dass Dir dies eine Lehre ist und Du Dich in Indien keiner ähnlichen Sünden schuldig machst.«
Verärgert legte Miguel den Brief beiseite. Wenn seine Angehörigen nichts anderes zu tun hatten, als sich die Köpfe über seinen unmoralischen Lebenswandel zu zerbrechen und sich voll heimlicher Faszination darüber zu ereifern, wie er sich an halbnackten farbigen Mädchen verging – bitte schön. Er fand es schändlich, dass sie ihm solches Treiben überhaupt zutrauten, denn nichts in seiner Vergangenheit hätte ihnen je Veranlassung zu dieser Einschätzung gegeben. Er hatte es nicht nötig, sich mit Gewalt zu nehmen, was er auch so haben konnte. Und schon gar nicht war er so gewissenlos, dass er, hätte er je eine Frau wissentlich geschwängert, nicht die Verantwortung übernommen hätte. Es empörte ihn, dass da jugendlicher Übermut mit Skrupellosigkeit verwechselt wurde. Er hatte gezecht und gespielt, ja, und er hatte nicht so eifrig studiert, wie er es hätte tun können. Aber ein Schurke war er deshalb noch lange nicht.
Er betrachtete das andere Couvert, das vor ihm lag und das, wie er auf einen Blick erkennen konnte, aus Goa kam. Die Lust auf weitere unerfreuliche Nachrichten war ihm vergangen. Doch er gab sich einen Ruck und drehte den Umschlag herum, um den Absender erkennen zu können. D. Assunção Mendonça Lopez Figueiredo? Warum sollte Dona Assunção ihm schreiben? Nun konnte er es kaum mehr erwarten, den Brief zu öffnen.
Mein lieber Freund,
habt herzlichen Dank für das wundervolle Verlobungsgeschenk, das Ihr mir per Boten habt zukommen lassen. Ihr habt mit diesen herrlichen Silberkämmen einmal mehr bewiesen, dass Ihr nicht nur Lebensart habt, sondern auch einen exzellenten Geschmack sowie das richtige Gespür dafür, was eine Dame in ihre ohnehin schon allzu überladenen Truhen noch einpacken kann. Ich finde Eure praktische Ader sehr erfrischend.
Der Anlass meines Schreibens ist jedoch ein anderer. Ich werde mich kurz fassen: Ein gewisser Senhor Carlos Alberto Sant’Ana geht in der Kolonie damit hausieren, dass er mit Euch befreundet ist und dass Ihr ihn mit dem nötigen Kapital ausgestattet habt, das er brauchte, um einen meiner Meinung nach verbrecherischen Handel mit gefälschten Reliquien aufzuziehen.
Verzeiht meine schroffe Wortwahl, und verzeiht auch, dass ich es bin, die Euch diese Botschaft überbringen muss. Bitte beehrt uns doch bald wieder mit Eurem Besuch, dann können wir in aller Ruhe über diese Sache reden, von der ich aus tiefster Seele hoffe, dass es sich nur um ein hässliches Gerücht handelt.
Delfina, Sidónio und Álvaro schicken Euch die besten Grüße!
In freundschaftlicher Hochachtung,
Eure
Assunção Mendonça
Miguel war bestürzt. Er würde so schnell wie möglich zu den Mendonças reiten und sich das Ganze ausführlicher schildern lassen – und dafür sorgen, dass er nicht in die Machenschaften seines »Freundes« mit hineingezogen wurde.
Was wusste er eigentlich über Carlos Alberto? Eigentlich nur, dass er der Sohn eines Kapitäns und ein kluger Kopf war, denn immerhin war er auf der Hinreise als Einziger schlau genug gewesen, Miguels Talent für Zahlen schnell zu erkennen und nicht im Kartenspiel gegen ihn anzutreten. Ansonsten wusste Miguel nur, dass Carlos Alberto in der Hauptstadt in einer schäbigen Wohnung hauste und irgendwelche geheimen Pläne ausheckte, wie er zu Geld kommen könne. Dass diese Pläne ihn, Miguel, und die Gefahr, seinen Ruf zu ruinieren, mit einschlossen, das hatte er nicht ahnen können. Oder doch?
Dass Carlos Alberto nicht gerade ein Ausbund an Tugend war, hatte er sich gedacht. Dass sein eigener Ruf auf schwachen Beinen stand, hätte er wissen müssen – wenn ein junger Mann aus guter Familie unter einem so fadenscheinigen Vorwand in die Kolonie geschickt wurde, steckte meist mehr dahinter als Abenteuerlust. Die Leute in ihrer unstillbaren Gier nach Klatsch hatten ihm wahrscheinlich schon jede Menge Sünden angedichtet,
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