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Der indigoblaue Schleier

Der indigoblaue Schleier

Titel: Der indigoblaue Schleier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ana Veloso
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kennengelernt hatte, dominierten. Anschließend fiel Miguel wie tot in sein Bett im Gästehaus der Plantage. Sein Schlaf war tief, traumlos und äußerst reglos, denn am Morgen fand er sich in derselben Position, in der er eingeschlafen war, und die Laken wirkten nicht so, als habe jemand eine ganze Nacht darin gelegen.
    Auf dem Rückweg zum Solar das Mangueiras überlegte Miguel, ob und wie ein Betrüger schon vor der Verschiffung der wertvollen Handelsware die Zahlen irgendwie manipulieren könnte. Er kam zu keinem befriedigenden Ergebnis. Sicher, ein Plantagenarbeiter konnte mit Leichtigkeit ein Beutelchen Pfeffer oder eine Handvoll Zimtstangen mitgehen lassen. Beim Trocknen der Gewürze bestand ebenfalls reichlich Gelegenheit, den einen oder anderen Scheffel Nelken oder Pfeffer abzuzwacken, und beim Transport vom Hinterland zu den Häfen war es bestimmt an der Tagesordnung, hier und da ein paar Muskatnüsse zu »verlieren«. Aber das waren verschwindend geringe Mengen. Der eigentliche Diebstahl wurde in großem Stil durchgeführt, und er geschah irgendwo zwischen dem Verladen in Goa und dem Löschen der Ladung in Lissabon.
    Eigentlich, dachte Miguel, müsste er unter falscher Identität auf einem der Frachtschiffe mitreisen und selber die exakte Anzahl von Säcken ermitteln, die sich an Bord befanden. Das wäre der einzige Weg, mit absoluter Gewissheit den Unstimmigkeiten auf den Grund zu gehen. Hier in Goa konnte er herzlich wenig ausrichten. Vielleicht war genau das der Grund gewesen, warum man ihn hierhergeschickt hatte? Er hätte nicht so schnell in den Vorschlag seiner Familie einstimmen dürfen, in die Kolonie zu gehen. Hätte er besonnener reagiert, wäre ihm vermutlich aufgefallen, dass die vermeintliche Vaterschaft der ideale Vorwand gewesen war, um ihn loszuwerden. Irgendjemandem kam es wahrscheinlich sehr zupass, dass er nun fort war und nicht daheim nachforschen konnte – wobei er in Lissabon niemals auf die Idee gekommen wäre, dies zu tun. Er hatte dazu keinerlei Veranlassung gesehen, da ja sein Vater und Bruder das Geschäft ganz ohne ihn führten und seine Einmischung auch nie geschätzt hatten.
    Miguel fragte sich, was aus dem schwangeren Mädchen geworden war, schob den Gedanken jedoch schnell wieder beiseite. Diese Person ging ihn nichts an, und ihr Kind, das jetzt schon über ein halbes Jahr alt sein müsste, noch viel weniger. Stattdessen versuchte er sich wieder auf seine eigenen Pläne zu konzentrieren. Ja, nach Weihnachten würde er sich auf die Reise durch das Indien der Moguln begeben. Bis April oder Mai könnte er wieder zurück sein, und dann würde er zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Er würde auf einem Handelsschiff nach Hause segeln, wo er, hoffentlich mit größtmöglichem Gewinn, seine eigene Ware an den Mann bringen und zugleich eruieren konnte, ob dieser Handel einträglich genug war, um ihn in größerem Umfang durchzuführen. Zugleich konnte er überprüfen, ob die Zahlen der auf den Papieren angegebenen Frachtmengen mit denen der an Bord befindlichen Säcke übereinstimmte. Wie er sich Zugang zu dem bewachten Frachtraum verschaffen sollte, wenn er unter anderem Namen reiste, war ihm noch nicht ganz klar. Aber es würde ihm schon noch ein Weg einfallen.
     
    Zurück im Solar das Mangueiras erwarteten Miguel zwei Briefe, darunter einer von zu Hause. Es war der erste, den er von dort bekam, doch er konnte seiner Familie schlecht Vorwürfe machen. Auch er hatte bisher nur einmal geschrieben, und das erst vor wenigen Wochen, so dass die Briefe sich überschnitten haben dürften.
    Genau so war es auch, wie Miguel erkannte, als er die eng zusammenstehenden Zeilen und winzigen Buchstaben von der Hand seiner Mutter zu entziffern versuchte. Sie ging mit keiner Silbe auf das ein, was er berichtet hatte, sondern äußerte ihre Besorgnis über sein Wohlergehen. »Zuweilen«, schrieb sie, »frage ich mich, ob es nicht ein Fehler war, Dich in die Kolonie zu schicken. Ein junger Mann, dessen sittliche Reife noch nicht zur Vervollkommnung gelangt ist, braucht Halt. Was er am wenigsten braucht, ist Zügellosigkeit, wie sie in der Kolonie herrscht.« Miguel lachte still in sich hinein. Seine Mutter war nie in Goa gewesen, und wahrscheinlich hielt sie die Inder, deren Kultur so viel älter war als ihre eigene, für Wilde.
    »Dennoch«, schrieb sie weiter, »hatte es auch ein Gutes. Über die unselige Angelegenheit mit dem Mädchen, das Du ins Unglück gestürzt haben sollst, wächst

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