Der indigoblaue Schleier
kleinsten und stickigsten aller Schlafgemächer, und starrte unglücklich die Wände an, von denen der Putz bröckelte. Jeder Kontakt zur Außenwelt war ihr verboten worden. Keine Stickarbeit, keine Lektüre und kein Musikinstrument waren ihr gestattet, um ihre Langeweile zu vertreiben. Zweimal täglich brachte eine Dienerin ihr ein Tablett mit Essen, einmal am Tag kam eine andere Bedienstete, um ihr Nachtgeschirr zu leeren. Alle Gegenstände, mit denen Bhavani ihrem tristen Dasein ein Ende hätte setzen können, waren entfernt worden. Nicht einmal die Laken oder ihre Gewänder taugten dazu, sie zu einem Seil zu schlingen: Nur zerschlissene Stoffe, die keiner Belastung standhalten konnten, befanden sich in dem Raum, inklusive ihrer Kleider. Dabei sehnte Bhavani sich gar nicht nach dem Tod. In diesem Fall hätte sie einfach die Nahrungsaufnahme verweigern können. Nein, sie wollte leben! Und je mehr man sie demütigte, desto größer wurde ihr Rachedurst – und ihr Überlebenswille.
Nayana war nach der Entdeckung ihres Ausflugs in Schimpf und Schande davongejagt worden. Bhavani machte sich große Sorgen um ihre
ayah,
denn diese würde zum Betteln gezwungen sein. Ihre einzige Familie waren sie gewesen, sie hatte sonst niemanden auf der Welt, der sie aufnehmen würde. Und was sollte eine alte Frau, die immer in wohlhabenden Haushalten gelebt hatte, allein und ohne Geld schon tun? Denn dass Nayana den Inhalt des Leinenbeutels anrührte, den Bhavani ihr kurz vor ihrem Hausarrest zugesteckt hatte, das mochte sie nicht glauben. So klug würde die alte Kinderfrau wohl sein, dass sie nicht bei einem Juwelier mit einem Diamanten aufkreuzte, der des Turbans des Großmoguls würdig gewesen wäre. Vielleicht, so hoffte Bhavani, war es Nayana gelungen, wenigstens das silberne Döschen, in dem der Diamant sich befand, unauffällig zu versetzen und davon zu überleben.
Je länger Bhavani allein in der Kammer vor sich hin brütete, desto mehr kreisten ihre Gedanken um Kleinigkeiten, denen sie zuvor keine Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Sie konnte sich immer und immer wieder unbedeutende Vorkommnisse vor Augen führen, bis diese zu großen Ereignissen heranwuchsen. Die Kupferschale, in der man ihr neuerdings den Reis brachte, statt wie bisher das Essen auf Bananenblättern zu servieren – was hatte sie zu bedeuten? Handelte es sich um ein geheimes Zeichen, das die Dienerin oder die Köchin ihr zukommen lassen wollten? Und die Glasmurmel, die ihr Bruder ihr vor Jahren geschenkt hatte – was hatte er ihr damit sagen wollen? War sie ein hilfloser Ausdruck seiner brüderlichen Liebe gewesen, die er trotz aller Bemühungen von Onkel Manesh und Tante Sita, Zwietracht unter den Geschwistern zu säen, noch immer für sie empfand? Woher hatte er diese Murmel? Waren die grünen und blauen Farbstreifen darin ein Hinweis auf die Farbgebung ihrer Kleidung gewesen, die sie am Tag der Verschleppung ihres Vaters getragen hatte? Wenn ja, wie hatte sie dies zu interpretieren? Und warum kam Vijay sie nicht gelegentlich in ihrem Gefängnis besuchen? Wurde er von ihren schäbigen Verwandten davon abgehalten? Bestimmt verhielt es sich so, ja, wahrscheinlich musste auch er allerlei Schikanen über sich ergehen lassen, weil er gegen alle Widerstände versucht hatte, seine Schwester zu retten.
Vijay indes scherte sich wenig um den Verbleib seiner Schwester. Er war mit seinen elf Jahren einzig darauf erpicht, den älteren Cousins zu beweisen, dass er mit ihnen mithalten konnte: dass er ebenso gut im Umgang mit dem Säbel war und dass er genauso geschickt ein Pferd reiten konnte. Dabei war er aufgrund seiner Fettleibigkeit eine ewige Zielscheibe ihres Spotts. Einzig im Ringen gelang es ihm gelegentlich, einen Sieg davonzutragen. Auch im Rechnen stellte er sich sehr gelehrig an, doch diese Wissenschaft schien ihm wenig geeignet, seine männliche Verwegenheit unter Beweis zu stellen, so dass er sie vernachlässigte.
Er sah seiner Schwester sehr ähnlich. Wäre er nicht so dick gewesen, hätte man in ihm einen schönen Jungen erkennen können. Doch seine grünen Augen verschwanden unter aufgedunsenen Lidern, seine von Natur aus feingliedrigen Hände waren patschig wie die eines Säuglings. Und Vijays Hunger kannte keine Grenzen. Je mehr man an ihm herumkrittelte, desto mehr wuchs sein Appetit. Seine Lust auf Süßes war unersättlich, nur selten sah man ihn, ohne dass er gerade an einem Honigbonbon lutschte oder auf einem Stück Mandelkonfekt kaute. Eine
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