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Der indigoblaue Schleier

Der indigoblaue Schleier

Titel: Der indigoblaue Schleier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ana Veloso
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gewisse Leibesfülle galt als durchaus wünschenswert, zeugte sie doch von Reichtum. Doch wenn sie gewisse Grenzen überschritt, sah man in ihr nur ein Zeichen von Willensschwäche, mangelnder Charakterfestigkeit oder Memmenhaftigkeit. Ein Zeichen von Kummer erkannte niemand darin. Einzig Tante Sita schien den Jungen zu verstehen: Sie steckte ihm bei jeder sich bietenden Gelegenheit Naschwerk zu, und Vijay liebte sie sehr dafür.
    Sita hatte leichtes Spiel mit Vijay. Ein Wink hier, eine Andeutung da – und schon hatte sie ihm unmerklich das Gift eingeträufelt, das seine letzten brüderlichen Empfindungen für Bhavani abtötete. Sie konnten es nicht riskieren, dass dieses Mädchen ihren Plan vereitelte: dank Vijay und seiner untadeligen Herkunft eines nicht allzu fernen Tages eine reiche Braut für ihn ins Haus zu holen, wie sie sie für ihre eigenen Söhne nicht zu finden hoffen durfte.
    Es war die Mutter von Bhavani und Vijay gewesen, die – aus Liebe, man stelle sich nur vor! – unter ihrer Kaste geheiratet hatte. So kam es, dass einer der Brüder gesellschaftlich aufstieg, während der andere, Manesh, auf immer dazu verdammt war, als kaiserlicher Beamter das Beste aus seiner Position herauszuholen. Immerhin: Ein Landvermesser hatte zahllose Möglichkeiten, die Hand aufzuhalten, denn bei jedem Grundstücksverkauf wurde er hinzugezogen. Es oblag ihm, die Größe des Landes und damit seinen Wert festzustellen, und oft vergrößerte eine kleine Zuwendung auf wundersame Weise das Stück Land, das jemand veräußern wollte.
    Nur Bhavani, dieses sture kleine Biest, war Sita und Manesh ein Dorn im Auge. Mädchen kosteten immer nur Geld und brachten keines ein. In ihrem Fall jedoch hätten sie aus ihrer Schönheit und ihrer Unschuld Kapital schlagen können – wäre diese Schlange nicht auf die Idee gekommen, den ausgewählten Bräutigam aufzusuchen und ihm Lügenmärchen aufzutischen. Trotz aller Beteuerungen, dass nichts davon der Wahrheit entsprach, war Iqbal sehr aufgebracht gewesen und hatte Abstand von der Verbindung mit dem Mädchen genommen. »Selbst wenn sie noch Jungfrau sein sollte – wer will schon eine so ungehorsame Frau? Sie bringt nur Scherereien. Sucht Euch einen anderen Dummen für diese Teufelsbrut.«
    Und das taten sie. Unterdessen sollte Bhavanis Willen gebrochen werden, und die Einzelhaft schien das einzig angemessene Mittel dafür zu sein. An dem Tag, an dem Bhavani darum bat, ihr Zimmer verlassen zu dürfen, und an dem sie versprach, fortan blind zu gehorchen, würden sie sie unverzüglich befreien. Sie würden sie erneut aufpäppeln, mit gutem Essen und mit kosmetischen Behandlungen. Sie würden sie in seidene Gewänder hüllen und sie mit hübschem Schmuck behängen. Und dann würden sie sie, ohne ihr Wissen, versteht sich, dem nächsten Bewerber vorführen, der schon bereitstand. Es handelte sich um einen kleinen Beamten, der mit der städtischen Abwasserentsorgung betraut war, wobei seine Aufgabe vor allem darin bestand, unterirdische Kanäle von den Häusern der wohlhabenden Bevölkerung hin zu den Bächen und Rinnsalen zu legen, an denen die Armen lebten. Er war ein böser alter Mann, was genau der Art von Strafe entsprach, die Sita für ihre Nichte vorschwebte. Genau genommen, dachte Sita, war es ein Glück, dass es mit Iqbal nicht geklappt hatte. Der Neue war so versessen auf blutjunge Mädchen, dass er noch Geld dazulegen würde, um Bhavani zu bekommen, wenn es auch nicht viel sein mochte. Denn was verdiente eine solche Kanalratte schon?
     
    Bhavani spürte, dass sie den Verstand verlor. Ein halbes Jahr lang hielt man sie nun bereits wie eine Gefangene. Jedenfalls glaubte sie, dass es so lange war, denn schon vor geraumer Zeit hatte sie aufgehört, die Tage mitzuzählen. Auch die Lieder, die sie anfangs gesungen hatte, hatte sie schon länger nicht mehr angestimmt, und die Rechenaufgaben, mit denen sie ihren Geist wachzuhalten versuchte, konnte sie nicht mehr lösen. Die Zahlen wirbelten in ihrem Kopf herum, und es gelang ihr nicht, sie zu einer sinnvollen Gleichung zusammenzufügen. Sie brachte ganze Tage damit zu, eine Strähne ihres Haars um ihren Zeigefinder zu drehen, sie wieder abzuwickeln und dann wieder aufzudrehen. Sie hatte die Namen vergessen, die sie ihren Zehen gegeben hatte, anfangs, als sie sich in ihrem Gefängnis noch komplizierte Geschichten ausgedacht hatte, die für zwanzig Figuren – zehn Zehen und zehn Finger – konzipiert waren. Es gab nur einen

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