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Der indigoblaue Schleier

Der indigoblaue Schleier

Titel: Der indigoblaue Schleier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ana Veloso
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einzigen klaren Gedanken in ihrem Kopf: Sie musste hier raus.
    Also fügte Bhavani sich. Sie trug der Dienerin, die ihr das Essen brachte, auf, Tante Sita auszurichten, sie sei nun bereit. »Wozu?«, wollte die Dienerin wissen, doch Bhavani scheuchte sie mit aller Ungehaltenheit, deren sie noch fähig war, fort. »Das geht dich nichts an. Sita-bai wird es schon verstehen.«
    Und so war es auch. Tante Sita kam freudestrahlend in die verwahrloste Kammer gerauscht, drückte Bhavani an sich und hauchte ihr ins Ohr: »Ich wusste, dass du genügend Verstand besitzen würdest, um nicht hier oben zu verrotten.«
    Bhavani rannen Tränen der Erleichterung über die eingefallenen Wangen. Sie würde alles tun, was man von ihr verlangte. Alles. Sie fiel auf die Knie und küsste ihrer Tante die Füße.
     
    Nayana bemerkte die kleinen Veränderungen, die im Haushalt des Landvermessers stattfanden, sofort. Täglich suchte eine dubiose Schönheitsexpertin das Haus auf. Alle paar Tage kamen Schneider, Tuchhändler und Schuhmacher vorbei – allerdings, wie die alte Kinderfrau erbittert feststellte, bei weitem nicht die besten ihrer Zunft. Sie machte sich ihren Reim darauf: Ihr Schützling, ihre süße Bhavani, ihr kleiner Schatz würde verheiratet werden. Sie hatten ihren Widerstand gebrochen. Nun sollte sie verscherbelt werden, höchstwahrscheinlich an einen Mann niederer Kaste. Was konnte sie, Nayana, die doch selbst um ihr Überleben kämpfte, nur tun? Sie überlegte verzweifelt, doch ihr fiel nicht viel ein. Sie hätte Bhavani gern eine Nachricht geschickt, nur um sie wissen zu lassen, dass sie nicht allein war und dass sie, Nayana, immer über sie wachen würde. Aber was hatte eine alte Bettlerin, die in Lumpen gehüllt und mit gebeugtem Kopf tagtäglich im Staub auf der Straße vor Maneshs Haus saß, schon für Möglichkeiten?
    Hilfe kam von unerwarteter Seite. Als Vijay zufällig einen Blick auf den Bräutigam seiner Schwester erhaschte, erfüllte ihn großer Zorn. »Wie könnt ihr es wagen«, schrie er Sita und Manesh an, »Bhavani diesem, diesem … Wurm zu geben? Ganz gleich, was sie verbrochen hat – sie ist noch immer ein Mitglied unserer Familie. Eine Ehe mit diesem Abschaum beschmutzt die Ehre von uns allen!« Alles Zureden nützte nichts. Vijay war ebenso fest entschlossen, sich dieser Vermählung entgegenzustellen, wie Manesh und Sita entschlossen waren, endlich ihre ungeliebte Nichte loszuwerden.
    Da Vijay über wenige Gelegenheiten und noch weniger Phantasie verfügte, wie er den Auserkorenen von der Eheschließung abhalten sollte, griff er zu derselben Lüge, die sich bereits Nayana und Bhavani ausgedacht hatten. Er bat den einzigen Menschen, den er in dieser Sache auf seiner Seite glaubte, um Hilfe: denselben Stallburschen, der einst Bhavani ihr »Kostüm« geliehen hatte, der aber dank Bhavanis hartnäckigem Schweigen nie zur Rechenschaft gezogen worden war. In Begleitung des Burschen machte er sich auf den Weg zum Haus des alten Kanalisationsbeamten. Dort hielt er sich nicht lange mit Höflichkeiten auf.
    »Ihr beabsichtigt, meine Schwester zur Gemahlin zu nehmen. Mein Onkel Manesh wird Euch gesagt haben, sie sei noch Jungfrau. Doch das ist sie nicht.« Dann drehte Vijay sich um, und zwar so elegant, wie man es bei seiner Leibesfülle nicht für möglich gehalten hätte, und verließ das muffige Häuschen, das der Alte sein Eigen nannte. Vijay war sehr zufrieden mit sich. Die mürrische Miene des alten Ekels, die sich bei Vijays kurzer Rede vor Wut verzerrt hatte, war diesen Ausflug in die Gosse wert gewesen.
    Doch weder sich selber noch seiner Schwester erwies er damit einen Gefallen. Noch am selben Abend stellte Onkel Manesh seinen aufmüpfigen Neffen zur Rede.
    »Was hast du dir nur dabei gedacht? Wie sollen wir Bhavani je verheiraten können, wenn alle Welt glaubt, sie sei nicht mehr unschuldig? Und was soll sonst mit ihr geschehen? Soll sie auf immer bei dir bleiben? Glaubst du vielleicht, eine hochgeborene Braut, wie wir sie für dich auswählen werden, wollte eine gefallene Hure in ihrem Haushalt dulden?«
    Vijay fühlte sich mit seinen beinahe zwölf Jahren schon sehr erwachsen. Doch in diesem Moment hätte er sich am liebsten wie ein kleines Kind an die Röcke seiner
ayah
geschmiegt.
     
    Keine Woche später – die Hochzeitsvorbereitungen waren abrupt beendet worden, die hoffnungsfrohe Unruhe im Haus war einem unheilvollen Schweigen gewichen – stieß Onkel Manesh mitten in der Nacht die Tür zu

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