Der Insulaner
Verständigungsschwierigkeiten unterhielten sie sich immer besser miteinander. Allmählich gewöhnten sie sich an die unterschiedliche Betonung der Worte und die leicht voneinander abweichende Grammatik.
Am dritten Tag nach dem Aufbruch hatte sich Deena soweit erholt, dass sie gesprächiger und lebhafter wurde und sich bereit erklärte, die Karawane zu den umliegenden Dörfern zu führen. Als Gegenleistung würde man nicht zulassen, dass die Amsi sie erneut gefangen nahmen. Sobald ein neuer Führer gefunden war, sollte die Frau ihrem Volk zurückgegeben werden. Anfangs hatte sich Shong mit diesem Abkommen nur zögernd anfreunden können.
»Wenn sie unsere Führerin ist«, drängte ihn Hael, »dann hat sie Anspruch auf unseren Schutz, nicht wahr?«
»Das hängt davon ab, wie sehr diese Amsi sie zurückhaben wollen«, erklärte der Kaufmann.
»Wenn sie behaupten, sie sei eine entlaufene Sklavin, kaufen wir sie ihnen ab«, beharrte der Junge. »Bestimmt werden sie nicht viel für sie verlangen.«
Shong warf einen Blick auf die junge Frau, die noch immer abgezehrt aussah. »Nicht, wenn sie nach dem Körpergewicht gehen. Lass dir eines sagen: Wir sind Händler und Forscher in einem fremden Land, in dem wir es uns nicht leisten können, uns Feinde zu machen. Wenn es sein muss, werden wir mit diesen Leuten verhandeln, aber ich bin nicht bereit, mehr als den angemessenen Preis für eine so magere Frau zu zahlen. Alles, was darüber liegt, musst du aus eigener Tasche bestreiten, denn du bist nur darum an ihr interessiert, weil du dich in sie verliebt hast. Wäre sie alt und hässlich oder gar ein Mann, würdest du dir weniger Gedanken um ihre Sicherheit und Freiheit machen.«
Hael hütete sich, Shong zu widersprechen. Freudig würde er sich von all seiner Habe trennen, um sie in Sicherheit zu wissen. Sie reizte ihn. Das lag nicht allein an ihrer Schönheit, wie Shong angedeutet hatte, sondern auch an der inneren Kraft und an ihrem Freiheitsdrang, der sie in das Gebirge getrieben hatte, obwohl ihr klar gewesen sein musste, dass sie es niemals allein und geschwächt hätte überwinden können.
»Warum hast du nicht versucht, zu deinem Stamm zurückzukehren?« fragte er Deena. Ihre Antwort versetzte ihn in Aufregung.
»Ich konnte ihnen nicht schnell genug davonlaufen. Sie reiten diese …« – sie wies auf sein Cabo – »… nicht so groß, aber sehr schnell. Die Berge sind ihnen verboten, darum kletterte ich hinauf.«
»Reitet dein Volk auch?« wollte Hael wissen. Sie schüttelte den Kopf. »Wir leben in bewaldetem Hügelland, die Amsi in der Steppe. Manche Stämme am Rand der Wälder halten Cabos und versuchen, von ihrem Rücken aus zu jagen, aber die Matwa wollen nichts damit zu tun haben.«
Das hörte sich interessant an, aber inzwischen wunderte sich Hael kaum noch über die seltsamen Sitten und Gebräuche der unterschiedlichen Völker, ihre Gebote und die ihnen untersagten Dinge. Jedes einzelne Volk glaubte, seine Lebensweise sei die richtige, und alle anderen handelten falsch oder zumindest höchst eigenartig. Wenn er an sein Leben auf der Insel dachte, das schon sehr lange zurückzuliegen schien, schüttelte er den Kopf bei dem Gedanken an die wunderlichen Dinge, an die er geglaubt hatte, ohne jemals richtig darüber nachzudenken.
Würde er noch länger zu den Shasinn gehören, hätte er Deena und ihr Volk verachtet, weil sie die Tiere des Waldes mit Langbögen jagten. Jetzt empfand er fremde Lebensweisen als ausgesprochen reizvoll. Außerdem brannte er darauf, die Amsi kennen zu lernen, auch wenn sie für die Karawane eine Bedrohung darstellen mochten. Endlich würde er einem Reitervolk begegnen, und dieses Treffen konnte sich als entscheidend für das erweisen, was er inzwischen als seine Bestimmung ansah. In dem Augenblick, als er sie im Gebirge erblickte, hatte er geahnt, dass auch Deena ein Teil seiner Zukunft sein würde.
Es drängte ihn, das vor ihm liegende Land zu betreten, als habe er endlich den Ort gefunden, an dem er heimisch werden mochte. Vom Boden aus wirkte die Steppe langweilig und öde. Jedoch vom Sattel eines Cabos aus gesehen breitete sich die grenzenlose Freiheit, die von einem Horizont zum nächsten reichte, vor ihm aus. Die sich daraus ergebenden Möglichkeiten vermochte er bisher nur schwach zu erahnen, aber dennoch fühlte er sich mit unerklärlicher Macht angezogen.
Am vierten Tag, als sie sich einem Dorf näherten, das nach Deenas Aussage ›Windbö‹ hieß, begegneten sie den
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