Der Insulaner
gespreizten Fingern auf die Brust, genau unter die Stelle, an der sich die hervorstehenden Schlüsselbeine trafen.
»Deena«, sagte sie mit einer Stimme, die kaum mehr als ein Hauch war.
Welch ein Fortschritt! Hael streckte den Arm aus und wies auf die hinter ihnen liegenden Berge und den Pfad, den sie genommen hatten. »Sturmland. Wir …« – er deutete auf die anderen Männer –, »… wir alle stammen aus dem Sturmland. Und du?« Wieder begleiteten weitschweifige Gesten seine Worte.
Sie runzelte die Stirn, als hätte sie ihn nicht richtig gehört. Allerdings sah sie ihn nicht ganz so verwirrt an, wie er befürchtet hatte. »Sturm-land?« Sie sprach mit eigenartiger Betonung, aber Hael verstand sie.
Choula gesellte sich zu ihnen. »Bleibe bei einfachen Wörtern und rede ganz langsam«, riet er dem Jungen. »Die meisten Leute sprechen einen Dialekt aus dem Norden oder Süden, und selbst diese beiden Sprachen haben wahrscheinlich den gleichen Ursprung. So wie sie die Selbstlaute ausspricht, würde ich annehmen, dass sie aus dem Norden stammt.«
Typisch Choula, dachte Hael, es so genau zu nehmen, aber der Mann hatte recht. Hael riss ein Grasbüschel aus. »Gras«, sagte er deutlich.
Diesmal nickte sie. »Gras.« Er bemerkte, dass sie nicht einfach sein Wort wiederholte, sondern ihr eigenes benutzte. Es hörte sich fremd an, war aber gut zu verstehen.
»Aus dem Norden!« rief Choula triumphierend.
Hael ließ sich zu einer langwierigen Unterredung nieder. Ein paar Dutzend Wörter reichten aus, um zu beweisen, dass Deenas Sprache einen großen Teil der Worte enthielt, wie sie auch westlich des großen Gebirges gesprochen wurden. Das einzige Wort, das sie nicht verstand, war ›Nusk‹. Diese Tiere schien sie nicht zu kennen. Zu Haels Freude waren ihr Cabos bekannt, obwohl sie sie ›Cabiyos‹ nannte.
Während der folgenden beiden Tage unterhielt sich Hael immer wieder mit der Frau, achtete aber sorgfältig darauf, sie nicht zu ermüden. Tuvas, der Arzt, untersuchte sie und verkündete, sie sei unverletzt, aber durch das lange Hungern stark geschwächt. Er interessierte sich sehr für Arzneikräuter und wurde recht ungeduldig, wenn er sich mit einem einfachen Menschen befassen musste, besonders, wenn es sich bei diesem Menschen nur um eine unbekannte Ausländerin handelte, die unter Umständen nichts als eine Sklavin war. Haels steinerner Gesichtsausdruck und seine barschen Worte überzeugten ihn jedoch davon, die Fremde eingehend zu untersuchen.
Am Morgen des dritten Tages, als sie sich zum Aufbruch bereitmachten, ließ Hael auf einem der Nusks eine Art Sattel für. Deena befestigen. Der Viehtreiber stammte aus dem Dorf, in dem sie überwintert hatten, und er vertraute dem Mann. Niemand machte eine Bemerkung über sein eigenmächtiges Handeln. Wahrscheinlich wagte es keiner der Männer, ihn herauszufordern.
An diesem Tag ergab sich von Zeit zu Zeit die Gelegenheit für Hael, an Deenas Seite zu reiten. Er war der Meinung, dass sie einander inzwischen gut genug verstanden, um bedeutsame Themen zu erörtern.
»Was hat dich ins Gebirge verschlagen?« wollte er wissen.
Lange Zeit sah sie ihn an, als müsse sie erwägen, ob sie ihm wirklich vertrauen könne. »Ich … ich entfloh den Amsi. Ich weiß, sie gehen nie auf den Berg. Ich dachte, ich käme auf die andere Seite. Wusste nicht, dass der Berg so hoch ist.«
»Du hast Glück gehabt. Es handelt sich nicht nur um einen Berg, sondern um ein ganzes Gebirge. Man muss es überqueren, um auf die andere Seite zu gelangen. Das dauert viele Tagesreisen.«
Sie zuckte die Achseln. »Ich hätte es trotzdem versucht, nur um wegzukommen.«
Hael sah sich aufmerksam um, erblickte aber nur vereinzelte Wildtiere. »Werden wir ihnen unter Umständen begegnen?« Wenn sie den Amsi so verzweifelt hatte entkommen wollen, konnten sie sich als gefährlich erweisen.
»Ganz bestimmt.« Deena sah grimmig drein, nicht aber verängstigt. »Doch ihr seid viele, gut bewaffnet. Sie werden nicht angreifen. Sie wollen handeln und tauschen.«
»Gut«, antwortete Hael. »Deshalb sind wir hier. Warum warst du ihre … Gefangene?« Er vermied es, das Wort ›Sklavin‹ zu verwenden, um sie nicht zu beleidigen.
Deena hob einen zitternden Arm und deutete nach Nordosten. »Dort lebt mein Volk, die Matwa, das Volk der Langbögen. Seit vielen Generationen sind wir Feinde der Amsi.« Letzteres musste sie mehrmals wiederholen, ehe er sie verstand. Trotz derartiger gelegentlicher
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