Der Insulaner
Amsi. Hael erspähte sie als erster. Wie immer ritt er voraus, aber diesmal nur wenige hundert Schritt vor dem Rest der Karawane. Shong hatte den Befehl dazu erteilt, da man in der Steppe weit in die Ferne schauen konnte und es deshalb nicht nötig war, dass sich Vorhut, Flanken und Nachhut außer Sichtweite entfernten. In großer Entfernung entdeckte Hael ungefähr zwanzig Reiter, die auf sie zukamen. Da er wusste, dass auch sie ihn gesehen hatten, wandte er sein Cabo gemächlich um und trabte ruhig zur Karawane zurück. Nachdem er Shong Bericht erstattet hatte, ließ der Kaufmann anhalten und befahl sämtliche Wachen herbei.
»Seid freundlich«, sagte Shong. »Zeigt keine Anzeichen von Unmut. Haltet die Waffen griffbereit, macht aber keine bedrohlichen Bewegungen. Ein winziges Missverständnis kann sich im Handumdrehen in eine blutige Fehde verwandeln. Das habe ich bereits erlebt.« Er wandte sich an Hael.
»Hael, du hast dich so oft mit der Frau unterhalten, dass du ihren Dialekt wahrscheinlich am besten verstehst. Choula, du bleibst ebenfalls an meiner Seite. Redet, beantwortet Fragen und seid freundlich. Aber wenn ich spreche, schweigt ihr und übersetzt nur, wenn es nötig ist. Verstanden?« Hael nickte. Er bewunderte die Umsicht und Vernunft des Kaufmanns.
Nach wenigen Minuten hatten sie die Reiter erreicht. Sie näherten sich nicht im wilden Galopp, sondern trabten gemächlich heran. Hael deutete das als gutes Zeichen. Obwohl die Fremden keine feindselige Haltung zeigten, wirkten sie ausgesprochen wild. Er zählte jetzt mindestens dreißig Reiter. Sie waren mit fein gegerbten ledernen Hosen bekleidet, die mit Farben und Stickereien verziert waren. Die meisten Männer trugen Kopfbedeckungen, die aus den Köpfen erlegter Tiere bestanden und ihre Häupter gleich Kapuzen bedeckten. Etliche Hörner und Geweihe waren zu sehen, aber auch Mähnen, Schweife, Federn und andere Dinge, die menschlichen Ursprungs zu sein schienen. Die Sättel waren geschickt gefertigte Gebilde aus Holz und Leder, sahen sehr leicht und bequem aus und waren ebenfalls bunt geschmückt. Außer ein paar Schmuckstücken aus Gold und Silber entdeckte Hael kaum Metall. Einzelne Krieger trugen Messer im Gürtel, und jeder Mann hielt eine Lanze mit einer Spitze aus Bronze in der Hand.
Die Amsi blieben stehen und stellten sich zwanzig Schritt vor Shong und seinen Begleitern in einer Reihe auf. Dann trieb ein Krieger sein Cabo nach vorn. Im Gegensatz zu seinen nur mittelgroßen Gefährten war er hochgewachsen. Die Beine baumelten nur knapp über dem Boden, und er saß locker im Sattel. Er trug bedeutend mehr Schmuck als seine Begleiter und ein fast weißes, reich besticktes Lederhemd. Auf dem Kopf thronte das Haupt eines rotbepelzten Raubtieres, dessen spitze Ohren aufgerichtet standen, als lausche es auf den Tritt der Beutetiere.
»Ich bin Impaba, Kriegshäuptling der Amsi des Nordwestens. Wer seid ihr, Fremdlinge, und was wollt ihr auf unserem Land?«
Shong gab Hael ein Zeichen. »Wir sind eine Handelskarawane, die der König von Neva ausschickte.
Wir kommen in friedlicher Absicht. Wie du siehst, sind wir nur wenige Männer, und wir führen kaum Waffen mit uns. Das hier ist unser Anführer: Shong, der zur ehrenwerten Kaufmannsgilde gehört. Ich bin Hael und stamme von den Inseln. Man bestimmte mich zum Sprecher, weil ich euren Dialekt ein wenig besser verstehe als die anderen. Dies hier ist Choula, ein Gelehrter.« Sie hatten beschlossen, nicht zu verraten, dass Choula ein Kartograph war, damit die Amsi nicht glaubten, die Karawane sei nur ein Vorwand, um das Land auszuspionieren.
Impaba wirkte ausgesprochen interessiert. »Seid ihr über die Berge gekommen? Wir ritten vor einigen Tagen entlang der Ausläufer, sahen aber niemanden.«
»Das stimmt«, bestätigte Hael. »Als der Frühling nahte und den Schnee vertrieb, kamen wir von Westen her über das Gebirge.«
Verwundert schüttelte Impaba den Kopf. »Wenige, nur sehr wenige haben je die Berge erklommen. Nur solche …« – er deutete auf die Viehtreiber mit ihren Nusks –, »… die dort leben, auf den Steilhängen. Kommt ihr aus einem großen Land?«
Hael wollte gerade antworten, als Shong, der inzwischen sicher war, sich ebenfalls verständlich machen zu können, ihn unterbrach. »Sehr groß, dicht besiedelt und sehr mächtig.« Es konnte nie schaden, anderen Völkern deutlich zu machen, dass der König durchaus in der Lage war, Rache zu üben, wenn man seinen Abgesandten etwas
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