Der Insulaner
ein Kind, das ihn aus weit aufgerissenen Augen anstarrte, reichte ihm eine mit Milch und Blut gefüllte Schüssel. Trotz seiner völligen Erschöpfung musste er lächeln, als er den bewundernden Blick des Kleinen wahrnahm.
Hael gab den Nachtkatzen einen Wink, und sie folgten ihm aus dem hellen Feuerschein hinaus. Dann setzten sie sich in schnellem Trott in Bewegung und eilten wieder an die Stelle zurück, an der sie Wache halten mussten.
»Ein Langhals!« rief Pendu. »Selbst wenn wir zu fünft sind, bleibt genügend Haut für jeden, um einen ganzen Umhang daraus fertigen zu können!«
»Du Narr!« entgegnete Raba, dem überhaupt nicht mehr zum Scherzen zumute war. »Die Bestie wird dir die Haut vom Leibe ziehen, und nicht umgekehrt! Minda hat vernünftig gesprochen. Zwanzig Krieger gegen einen Langhals – das wäre möglich. Sobald ich dem Vieh meinen Speer entgegengeschleudert habe, werde ich die Beine in die Hand nehmen und so lange rennen, bis mir jemand mitteilt, dass es tot ist. Das klingt weise, nicht wahr, Hael?«
»Man kann nicht vorsichtig genug sein, wenn es sich um eine derartige Bestie handelt«, stimmte Hael zu. »Jeder von uns hat schon eine Nachtkatze getötet, und diese Biester sind auch nicht ungefährlich. Es wäre aber verrückt, eine Nachtkatze mit einem Langhals zu vergleichen. Ich selbst werde versuchen, mich nicht durch närrische Taten mit Ruhm und Ehre zu bedecken. Jeder, der nicht Alarm schlägt, weil er den Langhals ganz allein erlegen will, verdient genau das, was ihm dann bevorsteht.«
»Wenigstens ist das Verbot der Tötung aufgehoben«, meinte Raba. »Es wäre schlimm, wenn wir bestraft würden, nur weil wir den Stamm zu schützen versuchen.« Der Gedanke an derartiges Unglück bedrückte die Jungen. Dass es sich hierbei um eine Ungerechtigkeit handelte, kam ihnen gar nicht erst in den Sinn. Bei rituellen Gesetzen ging es nicht um Gerechtigkeit. Die Regeln bestanden seit Urzeiten und durften nicht geändert werden, und die Strafen fielen immer ausgesprochen hart aus.
»Wir müssen in Bewegung bleiben«, sagte Hael, »und unser Gebiet fortwährend abschreiten. Bleibt aber dicht zusammen. Zwar müssen wir uns ein wenig verteilen, damit er nicht unbemerkt an uns vorüberschleichen kann. Aber niemand darf außer Sichtweite seiner beiden Nachbarn geraten.«
Niemand widersetzte sich seinen Anordnungen. Jetzt war keine Zeit für Machtkämpfe. Die Aussicht, einer Raubkatze gegenüberzustehen, war aufregend, aber ein Langhals bedeutete eine furchterregende, tödliche Bedrohung.
Die Jungen verteilten sich und schritten vorsichtig und lautlos aus. Sie befanden sich weit von den Feuern entfernt und mussten mit dem Licht des verwundeten Mondes vorlieb nehmen, das sich silbrig über das Gras ergoss. Von Zeit zu Zeit trug der Wind den Gesang der Frauen und das Blöken der Kaggas heran. Als sie die Grenze ihres Gebietes erreichten, machten sie kehrt und gingen den Weg, den sie gekommen waren, zurück. Schon nach wenigen Minuten rissen sie wie auf Kommando die Köpfe herum.
»Bei diesem Licht wage ich meinen Augen nicht zu trauen«, flüsterte ein Junge, »aber meine Nase lässt sich nicht täuschen. Was riecht denn da so seltsam?« Der Wind hatte sich ein wenig gedreht, und der Geruch der Feuer und der Kaggas war durch etwas Unbekanntes, Eigenartiges ersetzt worden.
»Da keiner von uns es je gerochen hat, können wir nur raten, was es ist«, sagte Hael laut genug, dass alle ihn hören konnten. »Dreht euch dem Wind zu und schreit, wenn ihr etwas entdeckt.«
Beunruhigt packten sie die Speere fester mit beiden Händen, warteten, strengten Augen und Ohren bis zum äußersten an und hielten nach einer Bewegung der legendären Kreatur Ausschau. Der Geruch nahm zu und wurde plötzlich wieder schwächer, als bewege sich der Langhals hin und her, um eine unbewachte Stelle zu suchen. Natürlich konnte es auch an der Launenhaftigkeit des Windes liegen.
Hael zwang sich, entspannt zu bleiben, wie er es häufig bei den Tagwachen machte, um dem überreizten Hirn keinen Anlass zu übereilten Entschlüssen zu geben. Er wurde eins mit dem Gras und spürte die Bewegungen der Kreaturen, die gedankenlos umherhuschten und ihren nächtlichen Beschäftigungen nachgingen. Augenblicklich bemerkte er, dass sich in dieser Nacht nur wenige Tiere in der nächsten Umgebung aufhielten. Sie hatten den gefährlichen Räuber gewittert und waren geflohen.
Dann spürte er es. Fünfzig Schritt vor ihm, auf der linken Seite.
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