Der Insulaner
können, wenn er die Waffe rechtzeitig erblickt und den Schild gehoben hätte. Der Speer steckte in dem schmalen Pfosten, der im Boden saß, um dem Zielkorb Halt zu verleihen. Das gefährliche Schwanken des Korbes unterstrich den hervorragenden Treffer noch.
Die Zuschauer stießen beifällige Pfiffe aus und stießen vor Begeisterung mit den Speergriffen auf den Boden. Die übrigen Nachtkatzen brachen in Jubelrufe aus. »Seht ihr«, meinte Gasam und lachte gezwungen, »ich hab’s euch ja gesagt!«
Die älteren Krieger machten sich auf, um sich am Ghul zu laben. Als sie an Hael vorüberschritten, bemerkte einer von ihnen: »Ein guter Wurf, Hael. Wenn du das auch mit dem Schild in der Hand schaffst, bist du reif für die erste Schlacht.«
Ein anderer Krieger grinste und klopfte dem Jungen auf die Schulter. »Hör nicht auf Narren wie den da! Betrunken oder nüchtern, mit oder ohne Schild – den Wurf hätte er niemals geschafft!«
Als Gasam vorbeiging, schwieg er, machte sich aber nicht die Mühe, seinen halb verächtlichen, halb feindseligen Gesichtsausdruck zu verbergen. Luo, Raba und Pendu näherten sich. Luo schüttelte verwundert den Kopf.
»Seit wann bist du denn ein so guter Speerwerfer?
Hast du heimlich geübt? Im letzten Monat warst du nicht halb so gut.«
»Vor ein paar Tagen hat er mit dem alten Geisterbeschwörer gesprochen«, meinte Pendu. »Tata Mal hat ihm bestimmt einen Zauber verraten, der den Flug des Speers lenkte.«
»Du spinnst doch!« rief Raba verächtlich. »Weißt du nicht, dass es gar keine Zauber gibt, die Waffen beeinflussen können? Wenn es nicht so wäre, würden wir längst von kleinen Gruppen der Geisterbeschwörer niedergemacht worden sein.«
»Ich habe keinen Zauber angewandt«, antwortete Hael so ernsthaft, wie es seine Art war, die den Gefährten oftmals eigenartig erschien. »Das würde ich nie versuchen. Diesmal wagte ich einfach nicht, danebenzuwerfen.«
Das Fest der Frauen war ein voller Erfolg, denn kaum war die letzte Trommel im grauen Licht des frühen Morgens verstummt, als sich die ersten weiblichen Kaggas stöhnend in den Geburtswehen wanden. Mit roten Augen, die von schlaflosen Nächten zeugten, begaben sich die Frauen zu den Herden. Bis auf ein paar der Ältesten und ihre Kinder, die sich um das eigene Vieh kümmern mussten, war das ganze Dorf auf den Beinen.
Die Herden waren auf einer großen Weidefläche zusammengetrieben worden, um die Sicherheit der kalbenden Mütter zu gewährleisten. Sämtliche Kriegerbruderschaften hatten sich versammelt und wurden von den Anführern als Wachen eingeteilt. Die ältesten Krieger schlossen einen Kreis um die Herde. Die größte Gefahr ging von den wilden Tieren aus. Einem ungeschriebenen Gesetz zufolge gingen andere Shasinnstämme und Hirtenvölker zu dieser Zeit nicht auf Raubzüge aus, da sie ebenfalls für ihre Herden sorgen mussten. Natürlich hielten sich nicht alle Feinde an die Gebräuche der Hirten, und aus diesem Grund trugen die älteren Krieger nicht nur Speere, sondern auch Schilde bei sich.
Obwohl niemand in diesen Tagen viel Schlaf bekam und es für alle reichlich Arbeit gab, herrschte Hochstimmung. Unter den wachsamen Blicken der Krieger sammelten die Kinder Brennstoff, um bei Nacht die riesigen Feuer in Gang zu halten, die Raubtiere abschrecken und den Frauen bei ihrer Arbeit Licht spenden sollten. Der Geruch des Blutes und der Nachgeburten, sowie das Blöken der neugeborenen Kaggas entfachte auch den Mut der sonst zurückhaltenderen Räuber. Überall ertönte das Brüllen der großen Katzen und das Zischen der Speerzähne. Mordvögel huschten durch das Gras, aber von ihnen ging keine Gefahr aus, da Gerüche und Laute sie nicht berührten. Sie hielten nur nach Bewegungen von Beutetieren Ausschau. Auch die Reptilien blieben immer in der Nähe ihrer heimatlichen Gewässer.
Boten eilten von Dorf zu Dorf, um vor besonders gefährlichen Raubtieren zu warnen oder Frauen zur Hilfe zu holen, die sich auf besonders schwierige Geburten verstanden. Die Geisterbeschwörer wanderten von einer Herde zur anderen, führten die gewünschten Rituale aus oder beschworen die Geister, den weiblichen Tieren beizustehen, damit kein Übel sie befallen konnte. Tag und Nacht erklangen die Lieder der Frauen und der Krieger und übertönten die Schreie der Kaggas.
»Ich weiß wirklich nicht, was schlimmer ist«, sagte Luo und schlug mit einem Kaggaschwanz um sich. »Diese herumschleichenden Streiflinge oder die Fliegen.«
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