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Der italienische Geliebte (German Edition)

Der italienische Geliebte (German Edition)

Titel: Der italienische Geliebte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Lennox
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hätte Tessa immer gesagt, sie ziehe das Leben in der Stadt dem auf dem Land vor. Sie hätte gesagt, traute Häuslichkeit finde sie langweilig, sie brauche Abwechslung und Vielfalt. Sie hatte es Guido übel genommen, dass er über ihren Kopf hinweg an seine Mutter geschrieben hatte; aber zugleich hatte sie eingesehen, dass das Leben in Florenz mit Kriegsbeginn für sie zu gefährlich geworden war.  
    Auf dem Gut hatte man mit offiziellen Dingen wenig zu tun. In gewisser Weise fand der Krieg fern von dieser in sich abgeschlossenen Welt statt. In anderer Weise aber betraf er sie natürlich alle. Ehemänner, Söhne und Liebste waren eingezogen worden, in den Städten herrschte Lebensmittelknappheit, Benzinknappheit war überall. Von den einschneidenden Ereignissen des Krieges – Deutschlands Angriff auf die Sowjetunion im Juni 1941, der darauf folgende Kriegseintritt Russlands auf Seiten der Alliierten, die fortwährenden Kämpfe in der nordafrikanischen Wüste – erfuhren sie über Rundfunkmeldungen, die sie sich meist schweigend anhörten, während sie sich bemühten, die Fakten von der Propaganda zu unterscheiden. Jeder hatte um irgendjemanden Angst.  
    Auf dem Kaminsims in der Villa di Belcanto stand eine Fotografie von Guido, Sandro und Faustina, aufgenommen im Garten des Palazzo Zanetti in Florenz. Faustina, im weißen Kleid und mit Strohhut, zeigte ein mürrisches Gesicht, Sandros Blick war ernst. Nur Guido, die Hände in den Hosentaschen, den Hemdkragen geöffnet, lächelte sorglos.  
    Tessa war nie gläubig gewesen, wusste nicht einmal, ob sie getauft war, und wenn ja, welcher Kirche sie angehörte, aber sie betete für Sandro und Guido. Es konnte nicht schaden, und man konnte ja nie wissen.  
    Im Januar 1942 kam ein kleines Mädchen namens Perlita in die Vorschulklasse. Ihre Mutter Emilia arbeitete in der Gutswäscherei. Am ersten Morgen stand Perlita mit großen dunklen Augen unter einem Vorhang schwarzer Haare stumm in der Garderobe, während die anderen Kinder ihre Mäntel oder Umschlagtücher ablegten und an die Haken hängten. Perlita, in Strickmütze, Mantel und Wollhandschuhen, machte keine Anstalten, sich auszuziehen. Wie eine Holzpuppe stand sie da, Angst in den Augen.  
    Tessa half ihr behutsam aus ihren Sachen, nahm sie an der Hand und führte sie ins Klassenzimmer. Sie setzte sich neben Perlitas Pult und blieb dort sitzen, während Signora Granelli die Kinder unterrichtete. Das kleine Mädchen sprach kein Wort. Beim Singen mit den älteren Schülern zusammen klammerte sie sich nur stumm an Tessas Hand. Am Nachmittag bekamen die Kleinsten Malbogen mit Tieren zum Ausmalen und Ausschneiden. Tessa half Perlita, ihren Löwen auszuschneiden, weil die kleinen Hände nicht kräftig genug waren, um mit der Schere zu arbeiten. Als Tessa sie eine Weile allein ließ, um den anderen Kindern zu helfen, folgte Perlitas Blick ihr ängstlich. Wenn Tessa keine Hand frei hatte, hielt sie sich an ihrem Rock fest. Signora Granelli gab ihr den Spitznamen ›Tessas Schatten‹.  
    Nach einer Woche sprach Perlita zum ersten Mal. Tessa klatschte und umarmte sie. Es war eine ganz andere Art von Triumph als früher, wenn sie ihr Bild auf dem Titelblatt der Vogue gesehen hatte. Anfangs sprach Perlita nur mit Tessa, aber mit der Zeit fasste sie auch Vertrauen zu Signora Granelli und den anderen Kindern. Eines Morgens, als die Kinder auf der Wiese tobten, die als Spielplatz diente, lief sie los, um mit den anderen zu spielen und schaute nur ab und zu zurück, um sich zu vergewissern, dass Tessa noch da war. Als der Frühling kam, machte Perlita beim Singen und bei den Tanzspielen eifrig mit. Aber sie würde nie eine Plaudertasche werden; sie war immer sparsam mit Worten.  
    Im April verließ Signora Granelli die Schule, um in Pistoia ihren Bruder zu pflegen, der in Nordafrika verwundet worden war. Tessa übernahm den Unterricht in der Vorschule. Am Ende jedes Schultags half Perlita ihr bei Einsammeln der Wachsmalkreiden und legte sie ordentlich in die alte Keksdose, in der sie aufbewahrt wurden. »Alles fertig?«, fragte Tessa dann, und Perlita nickte ernst und schob ihre Hand in Tessas, wenn sie gemeinsam aus dem Klassenzimmer gingen.  
    Staubkörnchen schwebten im schräg einfallenden Licht, als Rebecca die Tür zum Haus ihrer Mutter in Abingdon öffnete. Die Luft drinnen war abgestanden und verbraucht, ein paar Briefe lagen auf den Fliesen. Rebecca stellte den Koffer ihrer Mutter neben den Schirmständer, hob die

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