Der italienische Geliebte (German Edition)
fattoria lebte, und die Bauern mit ihren Familien auf den umliegenden Höfen.
Im Frühjahr schwollen die Bäche an und über die Felder legte sich der grüne Schimmer des jungen Weizens. Wenn die Tage länger wurden, trieben weiße Wolkenberge hoch oben am azurblauen Himmel dahin. Bis zum Mittsommer hatten sich die Maiskolben goldgelb gefärbt und die Weinbeeren hingen klein, hart und grün an den Reben. Die Bauern beobachteten besorgt den Himmel, aus Angst vor Hagel oder schweren Regengüssen, die die Ernte vernichten könnten. Dann kam die Erntezeit, wenn der Weizen in Garben auf Ochsenwagen geladen und in die sicheren Scheunen eingefahren wurde. Der Mohn an den Feldrainen wurde welk und seine Blütenblätter verfärbten sich bläulich. Auf dürren Stoppelfeldern huschte eine Maus in eine Hecke, um der sengenden Sonne zu entkommen. Im Hochsommer schluckte die Hitze die Farben der Landschaft, bis alles Grün aufgesogen und im August jeder Grashalm fahlbraun gedörrt war, während die Hügel in grau-blauem Dunst versanken.
Im September spülten Regengüsse den Staub vom Laub der Weinreben und der Oliven und reinigten die Luft. Später wurden Tomaten, Feigen und Pfirsiche im Hof der fattoria zum Trocknen ausgelegt, Kürbisse und Melonen reiften in der Sonne. Lange Leinen voller Maiskolben spannten sich zwischen den Bäumen wie riesige Bernsteinketten. Zur Weinlese wurden die prallen rötlichen und grünen Beeren in dicken Trauben eingebracht. Zwischen den Weinstöcken rannten Kinder hin und her und sammelten das scharlachrote Laub, das an das Vieh verfüttert wurde. Abends wurde mit einem Festschmaus und Tanz gefeiert.
Als Letztes wurden im November die Oliven geerntet. Außer Säuglingen und Gebrechlichen fuhren alle auf dem Gut zu den Hainen hinaus und pflückten die Früchte in Körbe, die um den Bauch getragen wurden. Ein kalter Wind raschelte im grau-grünen Laub der Ölbäume. Aus der ersten Ernte wurde das edelste Öl gewonnen, das extra vergine . Das ›Fallobst‹ gelangte in die zweite Pressung. Aus der dritten Pressung wurde Seife hergestellt, Schalen und Kerne wurden zerkleinert und, zu Platten geformt, als Brennstoff oder Düngemittel verwendet. Das Olivenöl wurde in bauchigen Terrakottafässern in den kühlen Kellern gespeichert, abseits vom Wein, damit die Aromen rein blieben.
Im Winter blies die Tramontana von den nördlichen Bergen herab, ein scharfer, kalter Wind, der selbst durch die dicken Mauern des Herrenhauses zu dringen schien. Schneestürme fegten über das Land und bedeckten die knorrigen Weinstöcke und die Hausdächer mit Weiß. An solchen Tagen war es, wie Tessa erfuhr, unmöglich, sich zu erinnern, was Wärme war, unmöglich zu glauben, dass es Zeiten gegeben hatte, wo sie die Kühle schattiger Winkel gesucht hatte wie eine Eidechse in den Ritzen einer Steinmauer.
Olivia Zanetti war jetzt Anfang sechzig. Groß und dünn, mit scharf hervorspringender Nase erinnerte sie Tessa dem Alter und der äußeren Erscheinung nach an die Kunstmäzenin und Lebedame Ottoline Morell, der sie einmal beim Rennen in Ascot vorgestellt worden war; doch ihr fehlten deren extravagante Persönlichkeit und Eleganz.
Von ihrem Büro aus, das im Erdgeschoss des Herrenhauses lag, leitete Olivia die Gutsgeschäfte. In den Lederbänden auf den Regalen waren Erträge, Saat- und Erntezeiten, Wetterverhältnisse, Ausgaben und Einkommen bis ins kleinste Detail niedergelegt. Im zweirädrigen Einspänner fuhr Olivia auf steinigen, ungeteerten Straßen und Feldwegen zu wöchentlichen Inspektionen ihrer Pachthöfe. Zur Schlachtzeit wählte sie zusammen mit dem Schweinehirten die Tiere aus, zur Olivenernte band sie sich einen Korb um und pflückte mit den anderen. Wenn einer der Gutsangestellten erkrankte, ließ sie den Arzt holen.
Sie war strenggläubig und ging jeden Morgen zur Messe. Ihr Glaube war ein tätiger Glaube, auf Verantwortungsgefühl und Pflichterfüllung gegründet. In ihren Beziehungen zu anderen war sie bei aller Fürsorglichkeit und Großzügigkeit streng, mied Vertraulichkeiten und zeigte ihre Zuneigung allenfalls durch einen gelegentlichen Kuss auf die Wange oder eine kurze Handberührung. Tessa vermutete, dass angeborene Zurückhaltung und ihr Glaube an die Bedeutung christlicher Nächstenliebe Olivia bestimmt hatten, ihre – Tessas – knappe Erklärung für den falschen Namen und die gefälschten Papiere mit einem bloßen Nicken und einem kurzen »Gut, ich verstehe«, zu
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