Der italienische Geliebte (German Edition)
zu Tode erschöpft von Not und Entbehrung, suchten im Herrenhaus und auf den umliegenden Höfen Nahrung und Schutz. Olivia wies niemals einen Flüchtling ab. Aber ihre eigenen Vorräte gingen allmählich zur Neige, und ihr graute vor dem Moment, sagte sie zu Faustina und Tessa, wenn sie entscheiden müsste, ob sie denen helfen wollte, die unter ihrem Dach lebten, oder den Flüchtlingen.
Kriegsgefangene, Deserteure und Partisanen suchten Hilfe auf der Krankenstation. Es konnte sein, dass früh am Morgen leise an die Tür geklopft wurde oder dass Faustina bei einem Gang durch den kleinen Garten hinter dem Haus im Schatten der Kastanie einen Verwundeten entdeckte, der sich dort versteckt hatte. Sie versorgten die Kranken und Verwundeten und bemühten sich, bis zu ihrer Gesundung ein sicheres Obdach für sie zu finden. Ende Mai wurden Flugblätter mit Warnbotschaften aus Flugzeugen abgeworfen. Wer Partisanen mit Nahrung oder Unterkunft helfe, werde erschossen. Jedes Haus, das einem Rebellen Schutz gewähre, werde zerstört.
Eines Nachmittags, als Tessa nach einem Besuch auf einem der Pachthöfe zum Herrenhaus zurückkehrte, hörte sie schon auf dem Fußweg, der sie an einem Feld entlangführte, das Knallen von Autotüren und das Knirschen schwerer Stiefel auf dem Kies. Hinter einer hohen, buschigen Hecke blieb sie stehen. Vorsichtig beugte sie sich vor, bis sie zwischen den Zweigen hindurchsehen konnte. Zwei deutsche Panzerwagen standen vor dem Herrenhaus; mehrere Soldaten gingen über den Vorplatz. Ein Soldat blieb bei den Wagen. Tessa beobachtete, wie er seine Feldmütze abnahm und sich gelangweilt am Kopf kratzte. Dann drehte er sich mit erhobenem Gewehr, bis er genau auf die Hecke blickte.
Tessa wich einen Schritt zurück. Ein Fußweg führte neben dem Feld ins Tal hinunter. Als sie davonlief, meinte sie, den Blick des Soldaten in ihrem Rücken spüren zu können, und schauderte.
Aber niemand rief ihr nach, kein Schuss zerriss die Stille. Als sie sich umschaute, war der Feldweg leer, und sie suchte schnell in einem Kastanienwäldchen Deckung. Sie ahnte, dass die deutschen Soldaten das Haus durchsuchten. Vielleicht war den Oberen ein Gerücht zu Ohren gekommen, dass die Zanettis partisanenfreundlich waren oder dass ein flüchtiger Kriegsgefangener in der Villa Belcanto auf Zuflucht hoffen konnte. Es bedurfte nur einer durch Bestechung oder Drohung herausgekitzelten Andeutung. Zum Glück waren augenblicklich keine Flüchtigen im Herrenhaus versteckt. Aber einige der Sachen, die in Tessas Schrank hingen, hatten englische Etiketten, und ihr Adressbuch mit der Liste englischer Namen, sowie ein Brief, den sie Anfang 1941 von Freddie erhalten hatte, waren hinter einem losen Backstein im offenen Kamin versteckt. Da brauchte jemand bei der Suche nur ein wenig gründlicher zu sein, und man würde entdecken, wer sie wirklich war. Sie hatten alle von Menschen gehört, die aus ihren Häusern gerissen, des Verrats oder der Spionage angeklagt und inhaftiert oder getötet worden waren.
Über ihr schimmerte das blasse Blau des Himmels durch das grüne Kastanienlaub. An manchen Stellen durchdrang Sonnenlicht das Blätterdach und fiel in leuchtenden Kringeln auf den Waldboden. Vor noch gar nicht so langer Zeit war es ihr gleichgültig gewesen, ob sie lebte oder starb. Aber jetzt entdeckte sie bei sich einen brennenden Wunsch zu leben, frei zu sein, den Krieg zu überstehen.
Es war dämmrig geworden, als sie sich endlich aus ihrem Versteck wagte. Im Innenhof des Hauses wurde sie von Faustina erwartet. Die deutschen Soldaten hatten nach drei entflohenen Gefangenen gesucht. Sie durchsuchten sämtliche Häuser und Höfe in der Gegend.
In ihrem Zimmer sah Tessa sofort nach ihrem Adressbuch. Es lag noch sicher in seinem Versteck. Sie atmete auf und setzte sich aufs Bett. Ihre Beine zitterten. Sie drückte eine Hand auf den Mund.
Sie dachte an Guido. War er gefangen genommen worden – aber wenn ja, hätten sie dann nicht über das Rote Kreuz etwas gehört? Oder hielt er sich, wie so viele andere italienische Soldaten, draußen in den Bergen verborgen? Sie erinnerte sich ihres Gesprächs in jener Sommernacht im Innenhof und dachte an Guidos Leidenschaftlichkeit, seinen Glauben an Treue und Prinzipien. Treue und Prinzipien waren jetzt gefährliche Begleiter. Viele Menschen mussten für sie sterben.
Lass ihn am Leben sein, dachte sie. Lass ihn in Sicherheit sein. Bitte, lass ihn noch am Leben sein.
Die
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