Der italienische Geliebte (German Edition)
dann das Gefühl, dass du gar keinen anderen Menschen brauchst. Dann bekomme ich Angst, dass du mir einfach zwischen den Fingern durchschlüpfst. Und das könnte ich nicht ertragen.«
Er hielt ihre Hand sehr fest. Sie schüttelte den Kopf. »Ich werde dir nicht zwischen den Fingern durchschlüpfen, Lewis.«
»Nein?« Er lächelte ein wenig schief. »Das ist gut. Denn weißt du, ich habe mich in dich verliebt, Freddie.«
Bisweilen hätte sich Tessa fast erinnert. Es war eine merkwürdige Erfahrung, sich fast zu erinnern. Als wollte man ein Flöckchen Distelflaum zu fassen bekommen, das einem, von der Luftbewegung der greifenden Hand getrieben, davonschwebte.
Die Fast-Erinnerungen tauchten frühmorgens, beim Erwachen, auf. Tessa öffnete die Augen und richtete den Blick auf das helle, lichtbeschienene Stück Vorhang am Fenster und sah vor sich eine lange, gerade Straße in grauem Regen. Am Straßenrand bewegte sich etwas – eine Fahne oder ein Schild, blau und orange. Dann löste es sich auf, und sie schloss die Augen und versuchte, sich wieder in den entspannten, träumerischen Zustand hineinsinken zu lassen, dem die Fast-Erinnerungen entsprungen waren. Angelo hatte eine Erkältung gehabt, sagte sie sich. Sie konnte nicht arbeiten, und es war schlechtes Wetter. Es war bedrückend gewesen, in der Wohnung zu sitzen, den unablässigen Regen zu sehen und Angelo schreien zu hören, weil er nicht trinken konnte. Max hatte sie besucht – aber sie konnte sich an den Besuch nicht erinnern. Er hatte ihr nur später davon erzählt.
Es war, als erhaschte man einen flüchtigen Blick aus dem Augenwinkel. Ein Aufblitzen, ein Schimmern, und ein Gedanke formte sich und gewann Gestalt. Ihr schien, als dürfte sie nur ganz verstohlen hinsehen, denn wenn sie versuchte, das Bild direkt ins Auge zu fassen, würde es vielleicht verschwinden und sich nie wieder blicken lassen.
Im Winter, als hoher Schnee gelegen hatte, war sie jeden Abend nach Einbruch der Dunkelheit das Tal hinuntergegangen. Sie trug den Pelzmantel ihrer Mutter und Gummistiefel und in jeder Hand einen großen Korb. Die gestutzten, knorrigen Weinstöcke bildeten Reihen schwarzer Zeichen im weißen Schnee, wie Punkte, die darauf warteten, miteinander verbunden zu werden.
Wenn sie den Wald erreichte, ging sie ein paar Schritte in die Bäume hinein und wartete. Bald zeigte sich dann ein halb abgeblendetes Licht, und sie hörte das Knirschen nahender Schritte. Dann trat einer der Männer – Desmond, Ray oder vielleicht Chris – aus den Schatten. Sie sahen alle wie Straßenräuber aus, häufig unrasiert, mit wildem Haar, die Kleidung ein zerlumptes Übereinander von allem, was irgendwie wärmen konnte. Sie versorgte sie mit den Lebensmitteln aus ihren Körben, sie redeten eine Weile, dann verschwanden die Männer wieder im Wald und sie kehrte zum Haus zurück.
Dieser Krieg, dachte Tessa oft, wurde immer wahnsinniger. Ein Weltkrieg und ein Bürgerkrieg wurden in einem schmalen, bergigen Land gleichzeitig ausgetragen. Da waren die alliierten Truppen, die mit aller Macht versuchten, den Brückenkopf bei Anzio zu halten, und zugleich erbitterte Kämpfe führten, um das Verteidigungsbollwerk der Gustav-Linie südlich von Rom zu durchbrechen. Da waren die Partisanenbanden, die sich in Wäldern und Bergen zusammenrotteten, eine Mischung aus italienischen Deserteuren, Patrioten und alliierten Kriegsgefangenen, denen es hin und wieder gefiel, aus dem Hinterhalt auf faschistische Milizen zu schießen, eine Brücke in die Luft zu sprengen oder einen deutschen Konvoi zu überfallen. Grausame Vergeltungsschläge gegen die Partisanen und ihre Familien folgten auf dem Fuß.
In den dicht bewaldeten Hügeln auf dem Belcanto-Besitz hielten sich mehr als hundert Männer versteckt. Tessa kannte viele von ihnen mit Namen. Sie kamen aus aller Herren Länder – Großbritannien, Kanada, Australien, Neuseeland, Indien, Frankreich. Einige, unter ihnen Desmond Fitzgerald, hatten mehr als einmal versucht, die alliierten Truppen zu erreichen, hatten aber jedes Mal umkehren müssen. Desmond war Mitte Dezember in die Toskana zurückgekehrt, nachdem er aus erneuter Gefangenschaft ausgebrochen war.
Während südlich von Rom der Kampf tobte, flohen immer mehr Menschen nach Norden. Ihre Häuser, Dörfer und Städte waren in der Schlacht dem Erdboden gleichgemacht worden. Hohlwangige, hungernde Männer, Frauen und Kinder, viele unter ihnen verwundet und krank, alle
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