Der italienische Geliebte (German Edition)
gewesen. Er war kein Vagabund, kein Wanderer, wie sie.
Tessa schloss die Augen und versuchte zu schlafen.
Am nächsten Morgen sehr früh gab es einen Moment der Stille. Tessa sah auf ihre Uhr. Viertel nach fünf.
Sie ging nach draußen. Ein Teil des Gartens hinter dem Haus hatte den Krieg bisher unberührt überstanden. Lavendel blühte auf schmalen Beeten und Rosen fielen üppig über Torbögen. Vom Kiesweg aus konnte Tessa ins Tal hinuntersehen. Die Granaten kamen jetzt näher; eine hatte im Olivenhain am Hügelhang eingeschlagen, und die knorrigen Stämme der Bäume zersplittert. An der Straße standen Zypressen wie schwarze Flammen. Der Tau auf dem Gras funkelte im Licht des frühen Morgens wie Juwelen. Wie frisch die Welt aussah, wie rein, dachte Tessa.
Kurz vor dem Erwachen hatte sie geträumt. Während sie ins Tal hinausblickte, dachte sie darüber nach und hörte wieder die Stimme. Er hat etwas anderes aufgetan. So ein kleines Flittchen in Oxford. Es hatte sich angehört wie aus dem Nebenzimmer.
Wer hatte gesprochen? Milos Frau natürlich. Tessa erinnerte sich jetzt, warum sie nach Oxford gefahren war. Sie wollte mit Milo reden, weil sie Angst gehabt hatte, ihn verloren zu haben. Es hatte stark geregnet, und Angelo hatte geweint, weil er so erkältet war. Sie selbst war müde und erregt gewesen. Sie sah wieder den Regen auf der Windschutzscheibe, das Metallschild, das im Wind schwankte, einen Radfahrer im gelben Ölmantel, das Licht seines Fahrrads, wie ein glühendes Zyklopenauge. Und den Lastwagen, der den Hang hinaufkroch.
Dann begannen die Geschütze wieder zu feuern. Die Stille war zerstört, und sie ging zurück zu den Stallungen.
Sie brachen am frühen Vormittag auf. Eine Artilleriegranate hatte die Terrasse getroffen, über die Tessa noch am Morgen in den Garten gegangen war, und der Hauptmann hatte Anweisung gegeben, alle Treibstoff- und Munitionsvorräte in die Keller zu bringen. Nun gab es auch hier kein sicheres Plätzchen mehr. Olivia hatte mit dem Hauptmann gesprochen, und der hatte ihr nochmals geraten, die Kinder wegzubringen. Sie seien hier nicht sicher, hatte er gesagt und sich dabei das unrasierte Kinn gestrichen. Jeder müsse für sich selbst sorgen.
Also machten sie sich auf den Weg nach Greve, ein ungeordnetes Häufchen Frauen und Kinder. Die Kinder hatten Sonnenhüte auf und trugen ihre Pullover, und die Erwachsenen – Tessa, Olivia, Faustina, Perlitas Mutter Emilia und Maria, die in der Wäscherei gearbeitet hatte – nahmen die Koffer und Körbe. Emilia, klein und stämmig, schob den Kinderwagen über den unebenen Boden.
Sie marschierten einen Feldrain parallel zur Straße entlang. Hundsrosen blühten in verwilderten Hecken, und im dichten Gras leuchtete Mohn. Sie wollten versuchen, höheres Gelände zu erreichen, wo dichtes Buschwerk und Gestrüpp, durch das sich Gräben und Hohlwege zogen, im Notfall vielleicht Schutz bieten würden. Die Straßen wurden jetzt unaufhörlich aus der Luft beschossen.
Als Tessa sich noch einmal umdrehte, sah sie am fernen Straßenrand grau und kaum erkennbar einen Toten liegen. Nun, dann würde sie eben nicht mehr zurückblicken. Von jetzt an würde sie nur noch daran denken, einen Fuß vor den anderen zu setzen und die Kinder wohlbehalten in Sicherheit zu bringen.
Sie ließen die Felder hinter sich und begannen den Anstieg in die Hügel. Von Zeit zu Zeit zählte Tessa die Kinder, um sich zu vergewissern, dass keines fehlte. In einem Wäldchen junger Birken machten sie Rast. Es war Mittag, über ihnen glühte die Sonne. Ein paar Kinder spielten Fangen zwischen den Bäumen, andere lagen im Schatten und lutschten am Daumen. Tessa sah zu, dass jeder ein paar Schluck Wasser trank und verteilte Brot und Wurst. Olivia, die blass und erschöpft aussah, gab sie mehr als den anderen zu trinken. Die Babys schliefen im Kinderwagen, und im Augenblick schien alles gar nicht so schlimm zu sein. Faustina, die sich mit solchen Dingen auskannte, las die Karte und schaute auf den Kompass. Noch knapp zehn Kilometer, sagte sie leise zu Tessa. Es wäre besser, wenn sie vor Einbruch der Dunkelheit in Greve ankämen. Sie sollten wieder aufbrechen.
Tessa rief die Kinder zusammen, zählte sie noch einmal und sah nach, ob jedes seinen Pullover hatte. Vielleicht war es jetzt noch zu warm für Pullover, aber das Wetter konnte über Nacht umschlagen. Zwei Kinder weinten, also nahm Tessa sie an der Hand und sang ihnen etwas vor.
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