Der italienische Geliebte (German Edition)
sechs Maschinen, deren ohrenbetäubendes Dröhnen sich an den Hängen brach. Sie rannten bergab zu einem flachen Graben, trieben die Kinder hinein, schrien sie an, sich zu ducken. Eins, zwei, drei, vier – wieder zählte Tessa. Wo war Perlita? Als sie sich umschaute, sah sie das kleine Mädchen angstgelähmt ein Stück weiter oben am Hang stehen. Sie sprang aus dem Graben, rannte hinauf und packte das Kind. Die Flugzeuge waren weg – aber da, über ihnen, ein greller Lichtbogen.
Sie erreichten den Graben. Perlita war gerettet. Tessa sah an sich hinunter. Auf dem Blau ihres Kleides war ein roter Fleck, etwa in Höhe des Gürtels. Verwirrt legte sie die Hand auf die Stelle. Als sie sie wieder hob, war ihre Handfläche rot.
Sie war auf einmal sehr müde, und sie fror. Sie setzte sich auf den Boden. Faustina kniete neben ihr nieder. Sie berührte den roten Fleck und sagte etwas, aber Tessa verstand sie nicht. Sie wollte ihr sagen, dass sie wohl verletzt sei und eine Weile rasten müsse, bevor sie weitergehen könne, aber sie konnte nicht sprechen.
Sie hatte keine Schmerzen. Ihr war nur so kalt. Sie streckte sich im Graben aus. Einen kurzen Augenblick sah sie die Baumwipfel und den blauen Himmel. Dann kam die Dunkelheit und löschte alles aus.
15
Freddie erhielt Faustina Zanettis Brief Anfang September. Ihre Schwester sei ums Leben gekommen, schrieb Faustina, als sie eine Schar Kinder von der Villa di Belcanto nach Greve begleitet habe. Ein Granatsplitter habe sie getroffen und eine Schlagader zerrissen. Sie sei beinahe sofort tot gewesen und habe nicht gelitten. Am Schluss gab Faustina ihrem tiefen Bedauern über Tessas Tod und ihrer bleibenden Zuneigung zu ihr Ausdruck. ›Sie war eine Heldin‹, schrieb sie. ›Sie war stark, treu und mutig, und wir werden sie niemals vergessen und immer vermissen.‹
Freddie saß auf dem Bett in ihrem Pensionszimmer und las den Brief erst einmal, und dann noch einmal, aber da kam sie nicht mehr bis zum Ende, weil sie zu weinen angefangen hatte.
Sie schrieb Ray, Max und Julian und einigen anderen von Tessas Freunden, von denen es jetzt immer weniger zu geben schien. Julian, bei einem Bombereinsatz über Deutschland verwundet und noch im Genesungsurlaub, rief an und meinte, dass eine größere Gruppe von ihnen sich zum Gedenken an Tessa an einem Abend im Ritz, das Tessa immer geliebt hatte, treffen wollte. Freddie sagte, sie habe keine Zeit. Und das stimmte. Sie arbeitete sechs Tage in der Woche in der Fabrik, von acht Uhr morgens bis sechs Uhr abends, und wenn es Eilaufträge gab, noch eine Stunde zusätzlich. Ihre freien Tage verbrachte sie größtenteils mit Schlafen – oder so war es bisher gewesen. Jetzt fand sie Tag und Nacht keine Ruhe.
An ihrem Arbeitsplatz erzählte sie niemandem von Tessa. Der kleine Kreis ihrer Freundinnen in der Fabrik hatte sich vor einiger Zeit aufgelöst – eine hatte gekündigt, weil sie ein Kind erwartete, eine andere, weil sie ihren Bruder pflegen musste, der in der Normandie verwundet worden war, und eine dritte war versetzt worden. Sie bemühte sich nicht, neue Freundschaften zu schließen. In der Fabrik versuchte sie, an gar nichts zu denken. In den Teepausen vermied sie Gespräche und war jetzt froh, dass es in der Halle zum Reden zu laut war. Ihr war bitter zumute, wenn sie an die langen Monate und Jahre dachte, in denen sie auf ein Wiedersehen mit Tessa gehofft hatte. Wenn sie sich ihres Jubels Anfang August erinnerte, als die Alliierten Florenz befreit hatten, wurde sie zornig. Zu der Zeit war Tessa schon tot gewesen. Sie hatte es nicht gewusst, sie hatte weiter gehofft, alles sinnlos.
Sie schrieb Lewis von Tessas Tod. Sie bekam keine Antwort – seine Briefe erreichten sie häufig erst mit großer Verspätung, manchmal kam wochenlang gar nichts und dann lag ein halbes Dutzend Briefe auf einmal im Kasten. Aber diesmal fragte sie sich, ob sie vielleicht auch ihn verloren hatte. Es schien ihr durchaus möglich, dass sein Schiff von Torpedos versenkt worden und er ertrunken war. Oder vielleicht hatte er festgestellt, dass sich diese Liebesbeziehung auf Raten für ihn nicht lohnte.
Eines Tages begann sie an ihrem Arbeitstisch in der Fabrik zu weinen und konnte nicht mehr aufhören. Schließlich wurde ein Arzt geholt, der sie nach Hause schickte und ihr zwei Wochen Ruhe verschrieb. In der Pension weinte sie weiter. Ihre Wirtin brachte ihr eine Tasse Tee nach der anderen, und sie versuchte, sie zu
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