Der italienische Geliebte (German Edition)
rief jemandem unten auf dem Bürgersteig etwas zu. Gegenüber in einer Seitenstraße traten zwei junge Mädchen aus einem Haus. Sie waren vielleicht vierzehn oder fünfzehn. Die eine trug ein blaues Kleid und schwang einen Einkaufskorb, die andere trug grüne Streifen.
Rebecca hörte plötzlich ein merkwürdiges Geräusch, ein dumpfes Knattern, das sich zu einem schrillen Heulen steigerte. Die Menschen hoben die Köpfe. Dann Stille, und dann, unmittelbar vor der gewaltigen Explosion, sah Rebecca etwas Großes, Dunkles am Himmel.
Die Wucht der Druckwelle schleuderte sie gegen eine Wand. Sie sah einen Lichtblitz, den Hagel von Trümmern, einen Körper, der durch die Luft flog. Rebecca war taub und die Welt plötzlich geräuschlos. Alles schien in Zeitlupe abzulaufen: Ein Auto erhob sich in die Luft, wie von einem riesigen Staubsauger angesogen, und mit ihm ein Fahrrad, ein Kinderwagen und ein Straßenschild – und in einem anmutigen Bogen der Körper der blonden Frau, die aus dem Fenster gezogen wurde und auf die Straße stürzte.
Dann konnte sie wieder hören. Menschen schrien, Sirenen heulten, rundherum krachte und klirrte es, als Backstein, Holz und Glas vom Himmel regneten. Sobald es aufhörte, stand Rebecca auf. Sie stellte fest, dass sie nicht verletzt war. Das Zentrum des Einschlags lag, wie sie sah, zwischen der Seitenstraße und der Gloucester Road. Ihr fielen die zwei Mädchen ein, die eine im blauen, die andere im grün gestreiften Kleid. Sie ging ein paar Schritte. Sie war nicht sicher, ob die rötlich-rosigen Klumpen auf dem Pflaster aus der Metzgerei stammten oder Teile menschlicher Körper waren. Es würgte sie. Dann tappte sie vorsichtig zur anderen Straßenseite hinüber, wo sie ein grün-weißes Stück Stoff erkannte.
Das Mädchen im grünen Kleid war tot. Von dem Mädchen in Blau war nichts zu sehen. Mit den Händen begann Rebecca in dem Haufen aus Backstein und Mörtel zu graben. Weißer Staub wirbelte auf, und die Splitter von Stein und Ziegel zerschnitten ihr die Hände. Sie kniete in Schutt und Staub, riss Holzteile heraus und warf sie zur Seite, zerrte weit vorgebeugt mit ganzer Kraft Bruchstücke von Mauerwerk aus dem Trümmerhaufen. Sie grub und scharrte wie im Fieber, voller Angst, das Mädchen würde ersticken, bevor sie es erreichte. Sie nahm wahr, dass Polizeiautos und Rettungsfahrzeuge mit schwerem Gerät eintrafen, aber sie schaute sich nicht um, sondern konzentrierte sich einzig auf ihre Aufgabe.
Endlich zeigte sich staubweiß ein Stück Stoff. Sie grub noch hektischer, schaufelte mit beiden Händen Staub und Splitter auf die Seite, kratzte mit einem Holzbrett Glasscherben weg. Da war das Bein des Mädchens, glatt und weiß.
Jemand sagte: »Kommen Sie, lassen Sie uns weitermachen«, aber sie hörte nicht auf zu graben. Sie spürte, dass sie ermüdete und ihre Muskeln ihr nicht mehr richtig gehorchten, und scharrte nur umso verbissener, den Tränen nahe.
Der Mann kauerte neben ihr nieder und legte ihr die Hand auf die Schulter.
»Sie machen das sehr gut, aber jetzt müssen Sie uns weitermachen lassen. Wir können sie schneller herausholen.« Dann half er ihr aufzustehen.
Sie beharrte darauf zu bleiben und den Feuerwehrmännern zuzuschauen, die das Mädchen aus den Trümmern befreiten. Jemand legte ihr eine Decke um die Schultern und ein anderer drückte ihr einen Becher Tee in die Hände. Ihre Zähne schlugen gegen den Rand des Bechers.
Als sie das Mädchen herausgezogen hatten, sah Rebecca, dass sie fast nackt war, ihr Kleid in Fetzen gerissen von der Gewalt der Explosion. Ihr staubbedeckter Körper schien unberührt.
Einer der Feuerwehrmänner legte die Finger an den Hals des Mädchens.
»Lebt sie?«, fragte Rebecca.
Der Mann nickte. »Gerade noch. Kennen Sie sie?«
Rebecca schüttelte den Kopf. Als zwei Frauen das Mädchen auf eine Trage hoben und sie zu einem Rettungswagen brachten, verließ Rebecca den Schauplatz. Immer wieder auf Schutt und Geröll ausrutschend, suchte sie sich einen Weg zwischen eingestürzten Mauern und zertrümmerten Fahrzeugen. Als sie schließlich die Cromwell Road erreichte, machte sie sich auf den Weg zur U-Bahnhaltestelle South Kensington. Ihre Handtasche hing noch fest über ihrer Schulter. Sie nahm sie herunter und suchte das Geld für die Fahrkarte heraus. Sie war jetzt unnatürlich ruhig, und als der Mann am Schalter sie fragte, ob alles in Ordnung sei, nickte sie überrascht und sagte: »Ja,
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