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Der italienische Geliebte (German Edition)

Der italienische Geliebte (German Edition)

Titel: Der italienische Geliebte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Lennox
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ihre schriftlichen Bitten, nach England zurückzukehren, nicht ernst nahm, würde sie, Freddie, eben nach Florenz reisen und sie zur Heimkehr zwingen müssen.  
    Zuerst musste sie das nötige Geld zusammenbringen. Sie sparte an allen Ecken und Enden und stellte einen Rückzahlungsplan auf, den sie ihrer Arbeitgeberin, Miss Parrish, präsentierte. Wenn Miss Parrish sich dazu entschließen könnte, ihr einen Vorschuss auf ihr Gehalt zu geben, würde sie ihn diesem Plan gemäß zurückbezahlen. Miss Parrish fragte Freddie, ob ihr klar sei, dass so ein Unternehmen sich schwierig gestalten könnte. Auch wenn die italienische Bevölkerung vielleicht nicht feindlich gegen die Briten eingestellt sei, könne das bei den amtlichen Vertretern des Staats sehr wohl der Fall sein. Freddie versicherte, sie werde selbstverständlich vorsichtig sein und nichts Unvernünftiges tun, aber sie habe Erfahrung, sie sei in ihrer Kindheit in ganz Europa herumgereist und später in den Schulferien mit ihrer Schwester mehrmals im Ausland gewesen. Sie büffle jeden Abend Italienisch, um ihre eingerosteten Kenntnisse der Sprache aufzufrischen, und sitze stundenlang über Fahrplänen der Bahn- und Schiffslinien. Miss Parrish warf ihr einen scharfen Blick zu und sagte dann: »Ich würde mit der Bahn reisen. Das ist weit angenehmer, und man wird nicht seekrank.« Am 22. Mai unterzeichneten Deutschland und Italien in Berlin einen Bündnisvertrag, den sogenannten Stahlpakt, der militärische Zusammenarbeit und unbedingte gegenseitige Unterstützung im Kriegsfall vorsah.  
    Am folgenden Tag sprach Freddie noch einmal mit Miss Parrish, die ihr daraufhin eine Woche freigab. Eine Woche – vier Tage für die Hin- und Rückreise, also nur gerade drei Tage, um Tessa zu überreden, nach Hause zu kommen. Freddie kaufte sich bei Thomas Cook and Son ihre Fahrkarte, packte einen Koffer und reiste am letzten Tag im Mai aus England ab.  
    Der Zug zur Küste, die Überfahrt über den Kanal, dann wieder mit der Bahn weiter, von Dieppe nach Paris. Sie fuhr mit der Métro quer durch die Stadt und trat die lange Nachtreise durch das Herz Frankreichs und über die Alpen nach Turin an, wo sie, angespannt vor Müdigkeit und ungeduldiger Erwartung, aus dem Wagen stieg und an einem Stand am Bahnhof Obst kaufte und einen Kaffee trank. Eine Stunde später saß sie in einem langsameren Zug, der durch das flache Land Norditaliens nach Bologna puffte und weiter nach Florenz.  
    Es war später Nachmittag, als sie in der Stadt ankam. Der Bahnhof Santa Maria Novella, ein imposanter neuer Bau aus Glas und Stein, war voller Menschen. Sie musste die Augen zusammenkneifen, als sie aus der Halle ins helle Sonnenlicht trat. Ihr war plötzlich bang. Sie hatte Tessa nicht geschrieben, dass sie kommen würde, ein Instinkt hatte ihr geraten, es nicht zu tun. Aber was, wenn Tessa die Stadt bereits verlassen hatte?  
    Als sie über die Piazza und hinunter zum Arno ging, legten sich ihre Ängste allmählich. Jeder Schritt weckte eine Erinnerung. Auf diesem Bürgersteig war sie hingefallen und hatte sich das Knie aufgeschrammt, und Mama hatte die Wunde mit ihrem Taschentuch verbunden. Da, in dieser schmalen Straße, war die Bäckerei gewesen, wo sie immer die mit Pudding gefüllten cornetti gekauft hatten, die sie und Tessa so gern aßen. Am Arno stützte sie die Ellbogen auf die Uferbrüstung und blickte über das Wasser. Das weiche Licht der untergehenden Sonne warf einen goldenen Glanz auf die Terrakottadächer und ließ den Fluss leuchten wie ein breites seidenes Band. Es war, als wäre die Luft selbst von Goldstaub durchwoben.  
    Nicht mehr lange, und sie würde wieder mit dem einzigen Menschen auf der Welt vereint sein, der ihre Erinnerungen und Erfahrungen teilte, der sie seit ihrer Geburt kannte, sie liebte und beschützte, über dieselben Dinge lachte wie sie und ohne zu fragen verstand, dass sie ihre Vergangenheit ein bisschen nachbessern musste, um sie in eine für Außenstehende annehmbare Form zu bringen. Und wenn im vergangenen Jahr die Rollen gewechselt hatten und es ihre Aufgabe gewesen war, Tessa zu beschützen, warum nicht? Zur Abwechslung war eben sie einmal an der Reihe gewesen.  
    Auf der Südseite des Flusses schaute sie auf den Stadtplan, während sie durch ein Gewirr von Straßen und Gassen ging. Schwere eisenbeschlagene Portale unter steinernen Bögen waren in die dicken, teilweise mit politischen Parolen beschmierten Hausmauern eingelassen und klobige

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