Der Jäger
Kassner. Auf dem Foto saßen beide auf der Couch, die Köpfe aneinander gelegt, die Arme auf den Schultern.Judith Kassner war eindeutig kleiner als Camilla Faun, aber sie hatte etwas Rassiges, Feuriges, hinter dem man nie eine Studentin der Naturwissenschaften vermutet hätte.
»Sie ist sehr hübsch«, sagte Durant nach einer Weile. »Können wir es behalten? Ich meine, Sie bekommen es natürlich zurück, sobald wir Frau Kassner gefunden haben oder sie sich von selbst gemeldet hat.«
»Ja, sie ist tatsächlich sehr hübsch, und Sie können es mitnehmen«, erwiderte Camilla Faun lächelnd. »Auch wenn ich sie nie gesehen habe, so weiß ich doch, dass sie sehr hübsch ist. Sie hat ein sehr glattes, ebenmäßiges Gesicht, warme, weiche Lippen, und ihr Haar duftet auf eine ganz besondere Weise. Ihre Finger haben etwas Fragiles, und ich glaube, wenn sie spricht, dann geraten die Männer völlig aus dem Häuschen. Sie hat eine sehr angenehme Stimme, müssen Sie wissen.«
»Wie groß ist sie?«
»Das habe ich doch schon vorhin angegeben. Einssiebenundsechzig, achtundfünfzig Kilo.«
»Und wo wollte sie gestern hin?«, fragte Durant weiter.
»Sie sagte nur, sie habe einen Termin. Wo und mit wem, das weiß ich leider nicht.«
»Einen Termin am Sonntag?«, fragte Durant erstaunt.
»Sie hat ihre Termine zu den unterschiedlichsten Zeiten. Samstags, sonntags, abends, nachts … Ich weiß nicht, was sie dann immer macht.«
»Wie oft hat sie diese … Termine in der Vergangenheit gehabt?«
»Ganz unterschiedlich. Manchmal ist sie nur einmal in der Woche weggegangen, manchmal aber auch drei- oder viermal.«
»Und Sie wussten nie, wohin sie gegangen ist?«
»Nein, ich habe mir auch abgewöhnt, sie danach zu fragen. Ich hätte ohnehin keine Antwort erhalten, oder sie hätte mich angeschwindelt.«
»Hat sie einen Freund?«
»Nein. Es gab nur einmal einen Mann, doch das war eine lose Beziehung. Es hat ungefähr ein Vierteljahr gedauert, dann hat sie Schluss gemacht. Das ist aber schon fast drei Jahre her. Seitdem hat sie keinen Freund mehr.«
»Gibt es ein Notizbuch oder ein Tagebuch oder einen Terminkalender von ihr?«
»Keine Ahnung. Da müssten Sie schon selber suchen.«
»Und wo könnten wir suchen?«
»Am besten in ihrem Zimmer. Es ist im Flur die erste Tür rechts.«
»Danke. Aber bevor wir dort nachsehen, noch eine Frage. Wirkte Frau Kassner in letzter Zeit irgendwie verändert? Ich will Ihnen jetzt nicht zu nahe treten, aber Blinden eilt der Ruf voraus, Dinge wahrzunehmen, die andere nicht …«
Camilla Faun lachte verständnisvoll auf und sagte: »Ja, es stimmt. Wir sehen mit dem inneren Auge. Doch um Ihre Frage zu beantworten, mir ist nichts aufgefallen. Sie war wie immer. Sie ist perfekt, wenn es darum geht, Privatleben und Studium voneinander zu trennen. Nein, eine Veränderung wäre mir nicht entgangen. Sie war so locker und gelöst wie immer.«
»Was wissen Sie über ihre Familie?«
Mit einem Mal wurde das Gesicht von Camilla Faun ernst. Sie zögerte mit der Antwort, strich ein paar Mal mit dem Zeigefinger über die Lippen. »Sie hat nie viel von ihrer Familie erzählt. Ihren Vater kennt sie nicht, er hat sich wohl aus dem Staub gemacht, als er erfuhr, dass seine Freundin von ihm schwanger war. Und ihre Mutter lebt in der Toskana, ist dort mit einem schwerreichen Bankier verheiratet. Doch außer großzügigen finanziellen Zuwendungen hat sie nicht viel von ihrer Mutter. Sie war auf jeden Fall noch nie hier. Und wenn sie das auch nicht zugeben will, so glaube ich schon, dass es ihr schwer zu schaffen macht. Ich meine, sie weiß nicht, wer ihr Vater ist, und ihre Mutter scheint sich recht wenig um sie zu kümmern.«
»Und der Name der Mutter?«
»Tut mir Leid, aber sie hat ihn nie erwähnt. Das müssen Sie schon selbst herausfinden. Doch vielleicht haben Sie ja Glück und entdecken den Namen und die Adresse in ihren Unterlagen.«
»Bekommt sie viel Post?«
»Nein, nicht sehr viel. Das meiste, was wir kriegen, sind Rechnungen. Oder mal eine Karte oder einen Brief von einem Freund oder einer Freundin.«
»Sie haben eben etwas von großzügigen finanziellen Zuwendungen gesagt. Was verstehen Sie unter großzügig?«
»Sie erwähnte mal etwas von fünftausend Mark im Monat.«
»Das ist eine Menge Geld«, stimmte Durant zu. »Teilen Sie sich die Kosten für die Wohnung?«
»Ich habe ja zuerst hier gewohnt. Aber dann wurde mir die Wohnung zu teuer, und ich war drauf und dran, mir was anderes zu suchen.
Weitere Kostenlose Bücher