Der Jäger
wenn die Kassner nur mal so weg ist?«
»Meinst du, das interessiert mich? Eine junge Frau wird von ihrer Freundin als vermisst gemeldet. Und dieser Sache müssen wir nachgehen. Vor allem, da der dringende Verdacht besteht, dass sie einem Verbrechen zum Opfer gefallen ist.« Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und sah Hellmer an. »Und außerdem, diese junge Frau da drüben ist blind, und sie fühlt, dass etwas nicht stimmt. Und sie macht sich große Sorgen, und wenn ich ehrlich bin, ich auch.«
»Okay, okay, tu, was du willst. Ich spiel derweil noch ein bisschen am PC rum.«
Als Julia Durant ins Wohnzimmer kam, saß Camilla Faun im Sessel, und es wirkte, als würde sie aus dem Fenster schauen.
»Frau Faun«, sagte sie, »ich hätte noch ein paar Fragen. Und auch wenn es unangenehm ist, so möchte ich Sie doch bitten, sie so genau wie möglich zu beantworten.«
»Natürlich. Doch ich glaube nicht, dass ich Ihnen viel helfen kann. Aber ich kann mir schon denken, was Sie von mir wollen. Und ich habe sogar eine Ahnung, eine sehr merkwürdige Ahnung. Aber bitte, fragen Sie.«
»Was für eine Ahnung haben Sie?« Julia Durant setzte sich der jungen Frau gegenüber.
»Ich hatte vor ein paar Tagen einen seltsamen Traum. Sie müssen wissen, ich träume sehr intensiv. In meinen Träumen kann ich sogar Farben sehen und Menschen, auch wenn man das bei einer Blinden kaum vermutet. Vielleicht liegt es daran, dass ich eben erst seit meinem elften Lebensjahr blind bin. Ich hattediesen Traum aber nicht nur einmal, ich hatte ihn in genau drei aufeinander folgenden Nächten. Ich glaube nicht, dass Judith zurückkommt. Ihr ist etwas passiert. Etwas Schreckliches. Ich weiß es.«
»Und was macht Sie da so sicher?«
»Ich sagte doch schon, es ist dieser Traum.«
»Ich muss trotzdem noch einmal auf Frau Kassners Mutter zu sprechen kommen. Was wissen Sie über sie?«
»Nichts, überhaupt nichts. Seit ich Judith kenne, und das sind immerhin schon gut drei Jahre, hat sie fast nie von ihr gesprochen. Und wenn ich einmal das Thema darauf brachte, wollte sie nicht darüber reden. Irgendetwas stimmt da nicht. Judith bezahlt fast die ganze Miete, sie kann sich alles Mögliche leisten, aber auch wenn sie sagt, sie habe das Geld von ihrer Mutter, so glaube ich es nicht. Jetzt schon gar nicht mehr.«
»Was heißt das, jetzt schon gar nicht mehr?«
»Was für Kleider und was für Schmuck hat sie in ihrem Zimmer?«
»Sehr, sehr teure Kleider, Kleider und Schmuck, die sich eine Studentin, auch wenn sie fünftausend Mark im Monat von ihrer Mutter bekommt, niemals leisten könnte. Hat sie viel telefoniert?«
Camilla Faun überlegte einen Moment, schüttelte dann den Kopf. »Nein, sie hat nicht viel telefoniert. Unsere Telefonrechnung ist selten höher als hundert Mark. Ich telefoniere viel mehr als sie. Meine Mutter wohnt in Schlüchtern, und wir telefonieren etwa zweimal in der Woche. Mal ruft sie an, mal ich. Aber Judith, nein, sie hat das Telefon fast nie benutzt. Aber sie hat ein Handy.«
»Haben Sie die Nummer?«
»Ja. Warten Sie, ich schreibe sie Ihnen auf.« Sie stand auf, holte einen Zettel und schrieb schneller, als die Kommissarin vermutet hätte. »Hier«, sagte sie und reichte ihn Julia Durant. »Sie brauchenaber gar nicht erst zu versuchen, sie anzurufen, ich habe es mindestens zwanzigmal probiert. Es meldet sich immer nur ihre Mailbox.«
»Und die Rechnungen für das Handy, wo könnten wir die finden?«
Camilla Faun zuckte die Schultern. »Keine Ahnung, in ihrem Zimmer.«
»In ihrem Zimmer gibt es keinen Aktenordner mit Rechnungen. Nur einen Haufen Telefonnummern, die sie in ihrem PC gespeichert hat.«
»Dann sind sie vielleicht in dem Ordner, in dem wir alle Rechnungen sammeln. Er steht dort drüben in dem Regal im untersten Fach.« Sie deutete auf das Regal, als könnte sie es sehen.
Julia Durant erhob sich, nahm den Ordner heraus, schlug ihn auf, blätterte ihn durch und legte ihn nach ein paar Minuten auf die Seite. Sämtliche Rechnungen waren akribisch genau und chronologisch geordnet, und auf jeder stand, wann sie bezahlt worden war. Doch es fand sich nicht eine einzige Rechnung des Mobilfunkbetreibers.
»Frau Durant, was glauben Sie, ich meine, was könnte mit Judith sein?«
»Ich weiß es nicht. Aber vielleicht lassen sich mit Hilfe der Telefonnummern ein paar Personen ausfindig machen, die mit Frau Kassner Kontakt haben oder hatten.« Sie hielt kurz inne, sah den Aschenbecher auf dem Tisch und die
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