Der Jäger
einen Teppich verkaufen wollte, aus der Hand gelesen und sie davor gewarnt, sich mit fremden Menschen einzulassen, auch wenn sie ihr vertraut erschienen, es könnte ihr Tod sein, und sie hatte sogar ein Jahr genannt – neunzehnhundertneunundneunzig. Die alte Frau hatte damals gesagt, jenes Jahr sei das Jahr, in dem sich ihr weiteres Leben oder ihr Tod entscheiden würde. Sie hatte es als Spinnerei abgetan, als Angstmacherei, weil sie sich geweigert hatte, einen Teppich zu kaufen, und die Alte sich auf diese Weise rächen wollte. Jetzt auf einmal kehrte die Erinnerung an diese Zigeunerin zurück, an ihre brennenden, warnenden, besorgten Augen, deren Bedeutung sie nun viel zu spät erkannte. Sie hatte vorher nie an Astrologie oder Handlesen geglaubt, es entzog sich ihrer Vorstellungskraft zu glauben, das Schicksal eines Menschen stünde in den Sternen oder in den Handlinien.
Sie wusste nicht, wie spät es war, sie hatte die Augen geschlossen, ihr Atem ging schwer, sie befand sich in einem Dämmerschlaf, als sie einen zarten Kuss auf ihrem Bauch fühlte. Sie sah die Person über sich, die Nasentropfen, die Pipette, die langsam in ihre Nase geschoben wurde, und die Flüssigkeit erleichterte allmählich das Atmen. Danach ein paar Küsse. Was war das nur für ein Spiel, war dies das Gleiten und Schweben, von dem sie gesprochen hatten? Auf die Küsse folgten wieder brutaleSchläge und Nadelstiche. Und dann war sie erneut allein. Sie dachte an ihren Mann und die Kinder, wusste jetzt mit Bestimmtheit, dass sie sie nie wiedersehen würde. Am meisten schmerzte sie der Gedanke an ihre Kinder. Sie waren doch noch so klein, und sie brauchten doch noch eine Mutter. Warum um alles in der Welt hatte sie das gemacht? Warum hatte sie nicht auf ihre innere Stimme gehört, die ihr gesagt hatte, nicht zu diesem Treffen zu gehen? Sie hörte doch sonst immer auf diese Stimme! Warum diesmal nicht? Sie fand keine Antwort darauf. Vielleicht war der Grund, dass sie einmal in ihrem Leben diesen Kick ausprobieren wollte, einmal ausbrechen aus der Eintönigkeit des Alltags. Dass es ein Ausflug in den Tod werden würde, daran hätte sie im Traum nicht gedacht.
Eine weitere Nacht und ein weiterer Tag vergingen, die sie, von unsäglichen Schmerzen gepeinigt, teils wach, teils in oberflächlichem Schlaf verbrachte. Am Abend wieder Küsse, Schläge und Stiche. Die Fesseln an ihren Füßen wurden entfernt, ihre Beine gespreizt. Sie sah den Rasierapparat, mit dem ihre Schamhaare entfernt wurden, schließlich die goldene Nadel, die durch ihre Schamlippen gestochen wurde. Sie fühlte nicht einmal Schmerz. Sie hatte aber keine Kraft mehr, sich zu wehren. Als ihre Augen wie von selbst zufielen, spürte sie kaum noch, wie die Drahtschlinge um ihren Hals gelegt und mit einem kräftigen Ruck zugezogen wurde. Erika Müller war tot.
Montag, 25. Oktober, 8.30 Uhr
Julia Durant hatte eine unruhige Nacht hinter sich. Unruhig und beschissen wie das ganze Wochenende, das aus nichts bestanden hatte, als die Wohnung einigermaßen auf Vordermann zu bringen, Wäsche zu waschen, zu bügeln und fernzusehen. Die einzige Abwechslung war ein Telefonat mit ihrer Freundin SusanneTomlin gewesen, die beschlossen hatte, eine Buchhandlung in ihrer Wahlheimat Südfrankreich zu eröffnen. Und natürlich hatte sie gefragt, wann sie sich denn wiedersehen würden.
In der Nacht war sie, wie so oft in den vergangenen Wochen, von unerklärlichen Albträumen geplagt worden, von denen ihr einer fest im Gedächtnis haften geblieben war. Sie war mit ihrem Corsa in eine Tiefgarage gefahren, doch als sie die Garage verlassen wollte, gab es plötzlich keinen Ausgang mehr. Sie hatte bemerkt, dass sie sich vollkommen allein darin befand, kein Mensch, kein anderes Auto. Sie hatte verzweifelt versucht, einen Ausgang zu finden, doch da war nichts als ein kleines Fenster im Dach, das über eine in die Wand eingelassene Leiter zu erreichen war. Sie war die Leiter hinaufgestiegen, musste oben aber feststellen, dass eine quer unter dem Fenster angebrachte Eisenstange ihr den Ausstieg verwehrte. Nachdem sie vergeblich versucht hatte, ihrem Gefängnis zu entfliehen, erwachte sie um halb sieben. Sie setzte sich auf, die Beine angezogen, die Arme darum geschlungen, den Kopf auf die Knie gelegt. Das Herz hämmerte in ihrer Brust, leichte Stiche in der linken Schläfe, ihr Mund war wie ausgetrocknet. Sie griff zu der Flasche Wasser, die neben ihrem Bett stand, schraubte den Verschluss ab und trank einen
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