Der Jäger
Auto. Sie dachte an den zurückliegenden Tag und wurde sich einmal mehr bewusst, wie wenig sie eigentlich die Menschen kannte, obgleich sie doch schon so viele unterschiedliche Typen und Charaktere kennen gelernt hatte.
Ausnahmsweise war an diesem Abend einmal ein Parkplatz direkt vor dem Haus frei. Sie stieg aus, schloss ab, holte die Post aus dem Briefkasten, zwei Werbebriefe, die sie gleich in den Papierkorb neben der Eingangstür warf, das neue Geo und die Telefonrechnung. Sie betrat ihre Wohnung, schaltete das Licht an, streifte ihre Schuhe ab und ließ sie einfach mitten im Raum liegen, warf die Post auf den Küchentisch, öffnete den Kühlschrank und nahm eine Dose Bier heraus. Sie riss den Verschluss ab und trank die Dose in einem Zug leer. Dann drückte sie auf die Fernbedienungdes Fernsehapparats, blieb bei dem Reportage-Magazin auf SAT1 hängen, zog ihre Jacke aus und ging ins Bad. Sie ließ Badewasser einlaufen, setzte sich für einen Moment auf den Badewannenrand, atmete ein paar Mal tief durch, erhob sich wieder und gab etwas Badeschaum ins Wasser. Auf dem Anrufbeantworter waren drei Nachrichten, eine von einer ehemaligen Kollegin und Freundin von der Sitte in München, eine von ihrem Vater, mit dem sie erst gestern telefoniert hatte und der sich nach ihrem Befinden erkundigen wollte, und eine von Kleiber. Er bat sie, ihn doch bitte zurückzurufen, auch wenn es sehr spät werden sollte.
Sie nahm den Hörer, schaute nach dem Wasser und setzte sich auf die Couch. Dann wählte sie Kleibers Nummer, der sich bereits nach dem ersten Läuten meldete.
»Hier Durant. Sie wollten mich sprechen?«
»Danke, dass Sie anrufen. Es geht noch einmal um unser Gespräch von heute Nachmittag. Ich bin gerade allein zu Hause und kann deshalb frei reden. Ich hoffe, Sie haben mich nicht falsch verstanden, Frau Durant, aber Judith hat mir wirklich sehr viel bedeutet. Es war eine rein freundschaftliche, wenn auch für Außenstehende sehr ungewöhnliche Beziehung.«
»Dagegen ist nichts einzuwenden …«
»Ich möchte nur nicht, dass irgendwelche Missverständnisse aufkommen. Es hört sich sicher für jemanden wie Sie merkwürdig an, wenn ich einer jungen und sehr schönen Frau eine teure Wohnung mit allem Schnickschnack kaufe, aber … Um es kurz zu machen, ich habe mit ihrem Tod nichts zu tun.«
Durant lächelte. »Herr Kleiber, das hat auch keiner behauptet. Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen, vorläufig gehören Sie nicht zum Kreis der Verdächtigen.«
»Entschuldigen Sie, ich war ein Narr, dass ich überhaupt angerufen habe. Vielleicht schreibe ich einfach zu viele Krimis und denke eben, die Polizei hat immer gleich jeden auf dem Kieker,der sich nicht der Norm entsprechend verhält. Aber wie gesagt, sollten Sie Hilfe brauchen oder weitere Informationen, ich stehe Ihnen gerne jederzeit zur Verfügung. Nur um eines möchte ich Sie bitten – meine Frau darf niemals erfahren, dass Judith und ich, na ja, Sie wissen schon. Es würde sie sehr verletzen, und das hat sie weiß Gott nicht verdient.«
»Sie können sich auf mein Wort verlassen. Und wir werden bestimmt noch die eine oder andere Frage haben und dann auf Sie zurückkommen. Aber da ich Sie schon einmal am Apparat habe – hat sich Frau Kassner eigentlich für Astrologie interessiert?«
Kleiber lachte kurz und trocken auf. »Ich weiß zwar nicht, warum Sie mich das fragen, doch sie hat sich nicht nur dafür interessiert, sie war geradezu besessen davon. Aber nicht, wie Sie vielleicht denken, weil sie an die Macht der Sterne glaubte, sondern aus rein mathematischen Gründen. Sie hat sich einmal ein Horoskop erstellen lassen, hat sich Literatur darüber besorgt, um sich eingehender mit dem Thema zu befassen, und wollte dann mathematisch beweisen, dass das alles Humbug ist. Ob es ihr gelungen ist, entzieht sich jedoch meiner Kenntnis. Versucht hat sie’s jedenfalls. Warum fragen Sie?«
»Nur so, reine Neugier. Haben Sie eine Ahnung, bei wem sie sich dieses Horoskop hat erstellen lassen? Und wissen Sie auch, welches Sternzeichen Frau Kassner hatte?«
»Die erste Frage kann ich nicht eindeutig beantworten, aber es könnte sein, dass es bei Herrn Lewell war. Ihre zweite Frage ist da schon einfacher zu beantworten – sie war Skorpion. Sie hatte ja am 23. Oktober, also gut einen Tag vor ihrem Tod, Geburtstag. Aber ich habe mich nie näher mit Astrologie und derartigen Dingen befasst. Mein Interesse gilt mehr der menschlichen Psyche, warum jemand etwas tut,
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