Der Jakobsweg
wahrscheinlich keine Menschenseele in dieser Wildnis und bei diesem Sauwetter unterwegs ist, die Tila gefährlich werden könnte.
Und immer weiter geht es den steilen Berg hinauf. Ich fühle mich sehr allein und unendlich einsam. Die Landschaft wirkt wie ausgestorben. Weit und breit kein Vogel, der singt.
Um die Mittagszeit endlich ein kleiner Ort: San Juan de Ortega. Trotz Ti las triefendem Fell und meiner klatschnassen Kleidung dürfen wir uns in einer kleinen Bar am Ofen aufwärmen und trocknen lassen. Der Kaffee tut gut und meine Stimmung steigt ein wenig.
Aber das ist nicht der einzige Grund. Morgen will uns Walti besuchen. Er hat seine Fluglehrerin überzeugt, dass sein nächster Trainingsflug direkt nach Burgos führen soll. Ich hoffe, es kommt nichts dazwischen, denn ich freue mich schon sehr darauf ihn zu sehen.
Rasch mache ich mich wieder auf den Weg. Die Erde hat sich inzwischen in eine breiige Masse verwandelt. Die Schuhe sind schwer wie Blei und das Gehen wird zur Qual.
Zum Glück regnet es jetzt nicht mehr, aber der Wind bläst mir immer noch rau ins Gesicht.
Ein großes Kreuz am Wegrand zeigt mir, dass ich auf dem richtigen Weg bin. Die Bäume, die sich im Wind krümmen, stimmen mich irgendwie traurig.
Ich stelle mir vor, wie es den Pilgern in früheren Jahrhunderten ergangen ist, als sie, womöglich mit Stofffetzen an den Füßen, den letzten Pass geschafft hatten. Ich höre sie in unterschiedlichen Sprachen murmeln und auch fluchen, weil Schlamm zwischen ihren Zehen quillt. Und dennoch waren sie vermutlich dankbar, ihrem Ziel wieder ein Stückchen näher gekommen zu sein, und gehorchten wie einem Befehl, indem sie unerschrocken ihren Weg gingen.
Als wir den Pass überqueren, glaube ich, ein kleineres Flugzeug zu hören. Ob Walti schon heute kommt?, schießt es mir durch den Kopf.
Quatsch! Jetzt fang bloß nicht an zu fantasieren, sage ich mir und marschiere weiter.
Aber mein Gefühl hat mich nicht getäuscht. Kurz vor Burgos hält ein Jeep neben uns. Als ob es das Selbstverständlichste von der Welt sei, steigt Walti aus. Mein Herz hüpft vor Freude. Es ist schön, ihn in die Arme zu schließen.
9. Tag der Wanderung: Burgos (Ruhetag)
Inkas flehendem Blick habe ich widerstanden. Selbst als sie mich auf Knien bat, zusammen mit ihr und Walti die Stadt zu erkunden, bin ich, wenn auch schweren Herzens, konsequent geblieben.
Von wegen Ruhetag. Ich habe heute eine wichtige Aufgabe zu erledigen. Deshalb können die beiden Turteltauben auch mal ruhig einen Tag ohne mich verbringen. Ich muss nämlich auf Ursula aufpassen. Sie scheint mir zwar vernünftig und auch ziemlich selbständig zu sein, aber da der erste Eindruck ja manchmal täuschen kann, werde ich die Zügel zunächst locker halten und abwarten, wie sie reagiert.
Ursula hat den Vorschlag gemacht, sich um Tila zu kümmern. Dankend nehme ich an und so gehört der ganze Tag Walti und mir.
In Burgos gibt es viel zu sehen und doch empfinde ich die Stadt nach all der Ruhe als laut und unwirklich. Die vielen Menschen hasten hin und her und ihre Geschäftigkeit geht mir ziemlich auf die Nerven.
In einem kleinen Lokal nahe der Kathedrale stehen Frauen und Männer an der Bar und trinken Kaffee.
Hier ist es ruhig. Wir bestellen ein opulentes Mahl: Gemüsesuppe, Salami mit frischem Brot, Lammbraten mit feinen Gewürzen und frischem Gemüse; dazu einen würzigen Rotwein. Als Dessert gibt’s Kuchen.
Seit über einer Woche bin ich mehr oder weniger allein gewesen und habe kaum mit anderen Leuten geredet.
Ich bin voller Eindrücke und Gefühle und es macht mich glücklich, sie Walti mitzuteilen. Ich erzähle und erzähle. Dabei wird mir das eine oder andere, das ich erlebt habe, erst richtig bewusst.
Die Stadt wirkt wie ausgestorben, sie scheint Siesta zu halten, als wir uns nach dem Essen zu Fuß auf den Weg zum Kloster Miraflores machen. Das Kartäuserkloster ist eines von vier in Spanien, das noch bewohnt und bewirtschaftet wird.
Ich weiß nicht, ob es am Rotwein liegt, den ich genossen habe, oder an meiner übersprudelnden Freude mit Walti zusammen zu sein, jedenfalls gehe ich unbekümmert auf einen der Mönche zu und frage, wo ich den Stempel für meinen Pilgerausweis bekommen kann.
Er lächelt still und schweigt.
Während er mich stumm zu einem seiner Ordensbrüder führt, fällt mir plötzlich ein, was ich gelesen habe. Die Kartäuser sind beschauliche Einsiedler, deren Leben von Stille und Einsamkeit geprägt ist, die nur
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