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Der Jakobsweg

Der Jakobsweg

Titel: Der Jakobsweg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carmen Rohrbach
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früh losgehen. Schließen Sie dann einfach die Tür hinter sich. Suerte por el camino - viel Glück auf dem Weg!«
    Überrascht betrachte ich das Zimmer. Das ist keine einfache Unterkunft für einen Pilger, sondern ein komfortabel eingerichtetes Gästezimmer: Ein mit frischer Bettwäsche überzogenes Federbett, Tisch und Stühle, Bilder an den Wänden, alles sehr freundlich und sauber. In einem Nebenraum befindet sich die Küche, und sogar eine Dusche mit warmem Wasser ist vorhanden. Diese Herberge war aber eine der Ausnahmen. Leerstehende Gebäude oder unbenutzte Schlafräume sind die üblichen Refugios, die den heutigen Pilger erwarten, der ein unentgeltliches Nachtquartier sucht.
    Ich liege im Bett und denke über diesen Tag nach, den ersten meiner Pilgerreise. Nur ein Tag - ist es möglich, daß sich an einem einzigen Tag so viel ereignen kann? Zuerst der französische Küster, der mit seinen Rufen die heidnischen Dämonen aus der Kirche vertreiben wollte, um mich dann auf der Empore zu entdecken. Der Sonnenaufgang über den Nebelwiesen. Die Maus, die keine Angst vor meiner Hand hatte. Die Pyrenäenüberschreitung und die unsichtbare französisch-spanische Grenze. Die Geier und der Wind, die Wolken und die Sonne. Die Schafe, die über den Kamm zogen. Der vertrocknete Buchenwald, der sich durch den Nebel in eine mystische Säulenmoschee verwandelte, und dann die harmlose Kuh, die mich doch so sehr erschreckte. Mir klingt noch die Stimme des Paters Sampedro in den Ohren. Ich höre sein tiefes, rollendes »r« und erinnere mich an seine glänzenden Kastanienaugen, da schlafe ich auch schon.
     

4 Von Roncesvalles nach Linzoain
     
    Ich bin sehr zeitig aufgewacht. Ohne länger zu verweilen, schultere ich den Rucksack, ziehe die Zimmertür hinter mir zu, wie es mir Pater Sampedro gesagt hatte und trete auf den gepflasterten Klosterhof hinaus. Es beginnt gerade erst, hell zu werden.
    Vor meinem zweiten Wandertag will ich die im Klostergelände gelegene Stiftskirche besichtigen. Auf einer draußen aufgestellten Informationstafel lese ich, daß die »Iglesia Colegial« 1219 fertiggestellt und eingeweiht wurde. Gestiftet hatte sie Sancho VII., weil er in einer Schlacht siegreich gewesen war. Die kleine Kirche ist im romanischen Stil erbaut. Sie gefällt mir. Ich öffne die Tür und trete ein. Es ist noch dunkel. Und während sich meine Augen an das Dämmerlicht im Inneren des Raumes gewöhnen, denke ich nach über Zusammenhänge zwischen Krieg und Kirche. Die Herrscher führten Feldzüge, eroberten und töteten. Um sich den Beistand Gottes für ihre Taten zu sichern, ließen sie eine Kapelle, ein Kloster oder eine Kathedrale erbauen. Heute bewundern wir nur noch die Schönheit der Bauwerke und die Kunstfertigkeit der Baumeister und Handwerker.
    Ein Leuchten durchflutet die Kirche. Überrascht blicke ich um mich. Als wären plötzlich Scheinwerfer angeschaltet worden, erstrahlt die Kirchenhalle in hellem Licht. Es ist die Sonne! Sie ist über die Pyrenäen gestiegen, scheint nun in das enge waldreiche Tal und durchleuchtet die bunten Glasfenster der kleinen Kirche. Ein Sonnenstrahl trifft eine Madonnengestalt auf dem Hochaltar. Es ist die »Virgen de Roncesvalles« - die Jungfrau von Roncesvalles«, eine geschnitzte Zedernholzfigur, mit Silber verkleidet und reich mit Edelsteinen und Gold geschmückt. Ein wunderbarer Anblick. Ich glaube zu verstehen, wie sich in solchen Momenten ein gläubiger Mensch fühlt. Nach langem Beten in der dunklen Kirche muß dieses plötzliche Eindringen von Licht ganz besonders auf ihn wirken. Und wenn gar die »Jungfrau«, an die er glaubt und an die er seine Gebete richtet, nun wie eine überirdische Erscheinung erstrahlt, dann könnte das für ihn die ersehnte Antwort sein: Er wurde erhört, er ist nicht mehr allein, seine Lebenslast ist ihm abgenommen, eine höhere Macht wacht und richtet über ihn und trägt die Verantwortung für alles, was geschehen mag.
    Der silbernen Jungfrau zur Seite stehen zwei liebliche Engel, die die Jakobsmuschel in den Händen halten, darüber wölbt sich ein Baldachin.
    Die Statue soll auf wundersame Weise hierhergelangt sein: Eines Abends, als schon die Nacht hereinbrach, erblickte ein Schäfer einen Hirsch, an dessen Geweihstangen zwei Sterne glänzten. Der Mann nahm all seinen Mut zusammen und folgte ihm. So gelangte er zu einer Quelle, aus der eine zauberhafte Melodie erklang. Der Hirsch verschwand, als hätte er sich in nichts aufgelöst. Völlig

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