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Der Jakobsweg

Der Jakobsweg

Titel: Der Jakobsweg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carmen Rohrbach
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und vor allem tolerantes Staatsgebilde auf, in dem Religions- und Meinungsfreiheit gewährt waren. Christen und Juden konnten ihren Glauben behalten und ausüben.«
    Ich bin erstaunt, daß ausgerechnet ein Pater so viel Verständnis für die damaligen Gegner aufbringt.
    »Ich beschäftige mich viel mit spanischer Geschichte«, erwidert er. »Die Zeit der Reconquista, der Rückeroberung Spaniens durch die Christen, interessiert mich am meisten. Ich bin der Meinung, Geschichte sollte als objektive Wissenschaft betrieben werden. Wir können sie nicht drehen und wenden oder umschreiben, auch wenn sie uns anders vielleicht besser gefallen würde. Die maurischen Sultane und Emire waren sehr humane und gebildete Herrscher gewesen. Besonders der Kalif von Cordoba, Abd ar-Rahman, führte das Land zu hoher wirtschaftlicher und kultureller Blüte. Die Araber gründeten die ersten Universitäten auf spanischem Boden, zum Beispiel in Salamanca. Ihnen verdanken wir es, daß Wissen aus der Antike in unsere Zeit hinein gerettet werden konnte. Sie kopierten die Werke der griechischen Philosophen und übersetzten sie. Ohne die Araber wäre dieses ganze Wissen verlorengegangen, denn die Originale wurden beim Brand der Bibliothek in Alexandria zerstört, und auch viele andere Werke gingen durch Kriegswirren und Diebstahl verloren. Doch lassen Sie mich zum getreuen Roland zurückkehren. Wo war ich stehengeblieben? Ach so, ja, Karl der Große belagerte also vergeblich die Stadt Zaragoza. Schließlich zog er enttäuscht ab. Er mußte wohl auch wieder daheim für Ordnung sorgen. Wegen seiner langen Abwesenheit wurden unterworfene Völker seines großen Reiches rebellisch. Im Osten sollen sich die Sachsen im Aufstand befunden haben. Auf dem Rückzug läßt der König dann Pamplona zerstören, nur etwa 40 Kilometer von hier entfernt. Sie werden die Stadt bald kennenlernen, in zwei Tagen sind Sie dort. Pamplona war schon...« Er rechnet schnell: »Ja, es sind über tausend Jahre vergangen, also genau vor 1209 Jahren war Pamplona bereits eine blühende Stadt und das Zentrum der Baskengemeinden. Deswegen glaube ich, daß die Basken den Hinterhalt legten, um sich für die Zerstörung ihrer Stadt zu rächen, und nicht die Araber, wie oft behauptet wird. Im Rolandslied wird erwähnt, der Ritter sei mit seinem Schwiegervater Ganelon in Streit geraten. Und Ganelon hätte veranlaßt, daß Roland zum Führer der Nachhut bestimmt wurde und habe ihn dann an die Feinde verraten. Der Recke soll mit seinem Wunderschwert Durendal viele Gegner getötet haben. Schließlich unterlag er aber trotzdem der Übermacht.«
    Obwohl der Pater lebhaft und fesselnd erzählt, gelingt es mir kaum noch, die Augen offenzuhalten. Der Tag war anstrengend. Ich sehne mich danach, mich auszustrecken und zu schlafen. Meine letzte Kraft wird dafür aufgebraucht, der schnellen spanischen Rede zu folgen.
    Wahrscheinlich bemerkt der Pater meinen übermüdeten Zustand, und er holt die Schlüssel. Während wir durch schmale Gänge schreiten und über hohe Treppen steigen, frage ich ihn, ob er selbst schon einmal nach Santiago gepilgert sei.
    »Nein, bis Santiago bin ich noch nicht gekommen«, lautet seine Antwort, »aber hier in der Provinz Navarra habe ich jeden Meter abgelaufen, mit einem gelben Farbtopf in der Hand.«
    »Ein Topf mit gelber Farbe, para que - wozu denn das?« frage ich überrascht.
    »Um den Weg zu markieren. Immer mehr Menschen kommen aus allen Ländern Europas, eine Renaissance des alten Pilgerwesens beginnt. Wir Spanier wollen diese Bewegung unterstützen. Wir freuen uns, wenn Traditionen wieder lebendig werden und fühlen uns verantwortlich, den Menschen zu helfen, die unseren Weg, den »camino de Santiago«, gehen. Die neuen Pilger sollen nicht irgendeinen Weg gehen, sondern wirklich den richtigen finden, der die Erinnerung an Millionen Menschen und ihre Schicksale trägt. Mit großer Mühe und Sorgfalt haben wir ihn mit Hilfe historischer Aufzeichnungen und Karten rekonstruiert. Manchmal ist er draußen nicht mehr zu sehen, er wurde umgepflügt, und Getreide wächst jetzt darüber. Dann habe ich auf jeder Seite des Feldes an einen Baum oder Stein einen gelben Farbfleck gepinselt. Man kann um das Feld herumlaufen, es gibt neue Wege, aber der Pilger soll den originalen Verlauf erkennen können.«
    Während seiner langen Rede sind wir vor einer Tür angelangt. Er schließt sie auf. »Buenas noches - Gute Nacht«, verabschiedet er sich. »Sie werden morgen sicher

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