Der Jakobsweg
der Mensch sie läßt, dann lebt die Natur. Ein Kuckuck ruft, und lachend antwortet ihm sein Weibchen. Ihr Ruf klingt tatsächlich wie Lachen. Pfeilgeschwind wie ein Sperber rauscht das Kuckucksweibchen an Ästen und Zweigen vorbei und bäumt auf. Sie ist rostrot, mit einer schwarzbraunen Querzeichnung auf der Brust. Da kommt schon das Männchen, blaugrau und unermüdlich »kuckuck«-rufend. Sie entschwindet laut kichernd mit »kwickkwickkwick«.
Ein warmer Fallwind weht kräftig vom Pyrenäenkamm herunter. Als würden diese warmen Winde zusammen mit der Sonne das Leben zum Brodeln bringen, quillt es aus der Erde empor, sprießt, grünt und blüht.
Die Ortschaft Ureta besteht aus einer Handvoll kleiner Häuser. Ein Bauer sagt mir, daß nur noch ein Gebäude von ihm und seiner Frau bewohnt sei, alle anderen Leute wären in die Stadt gezogen.
»Ahí se gana mucho dinero. Dort verdienen sie jetzt viel Geld«, behauptet er. »Un campesino tiene que trabajar duro desde de mañan hasta la noche, pero el gana poco, casi nada. Ein Bauer dagegen muß hart arbeiten, von früh bis spät, aber er verdient nur wenig.«
Die verlassenen Häuser sehen keineswegs verwahrlost aus. Im Gegenteil, mit geschlossenen Fensterläden scheinen sie geduldig auf ihre Bewohner zu warten. »A Santiago, verdad? Nach Santiago, nicht wahr?« meint der Mann. » Y sola? Muy brava! - und allein? Sehr mutig! Me gustaria tambien irme a Santiago - ich würde auch gern nach Santiago gehen.«
Er möchte noch mehr sagen, doch da ruft ihn seine Frau ins Haus - das Mittagessen sei bereits auf dem Tisch.
An einem baumbeschatteten Flüßchen steht eine alte, nicht mehr benutzte Mühle. Das hölzerne Wasserrad ist vermodert. Vor den blinden Glasscheiben des kleinen Fensters hängen Vorhänge aus Spinnennetz. Kühle steigt aus dem leise murmelnden Wasserlauf. Ich will eine längere Rast machen, um zu essen. Es ist schon weit über Mittag. Am Morgen hatte ich nur ein trockenes Stück Brot verzehrt, denn ich war zu begierig gewesen, mit der Wanderung zu beginnen. Zu einem gemütlichen Frühstück ließ ich mir deshalb keine Zeit.
Dann hatte die Natur mit ihren Düften, den Farben, den vielfältigsten Tönen meine Sinne so sehr berauscht, daß ich keinen Hunger verspürte. Im Rucksack sind noch die Vorräte aus Deutschland. Ich lange kräftig zu, auch damit die Last leichter wird: Brot, Käse, Wurst, Zwiebeln und Knoblauch. Ich genieße es, mich beim Wandern auf diese Weise zu ernähren. Nun noch eine dicke Scheibe von der Wurst zum Abschluß. Ich esse sie gleich so, ohne Brot. Die Luft trägt den Geruch der warmen Erde, und die Dünste, die vom Wasser und dem modrigen Holz aufsteigen, mischen sich mit denen von Zwiebel und Knoblauch.
Eine unbändige Freude durchströmt mich. Wie gut es mir doch geht. Was brauche ich mehr? Ich habe alles: Brot, Wasser und Sonne, viel Sonne, Himmel und Erde. Wie um meine Gefühle zu bestätigen, beginnt wieder eine Nachtigall betörend zu singen. Ich bin frei, befreit von unerquicklichen Grübeleien, vergeblichen Hoffnungen und müder Resignation. Könnte ich doch immer so weiterwandern, wünsche ich mir!
In Viscarret umlagern wuchtige Baskenhäuser mit hochgewölbten Einfahrten den Platz vor der Kirche. Es ist ein bescheidenes Kirchlein mit romanischem Portal. Goldammern picken zwischen dem Kopfsteinpflaster nach Körnern und Krümeln. Ein Haus an der Straße besitzt nur ein einziges, winziges Fenster. Dieses kleine Fenster in der wuchtigen Mauer sieht hübsch aus, weil es ganz von einem Topf mit einer buschigen, rotblühenden Blume ausgefüllt ist. Ein struppiger, gelber Hund liegt schläfrig auf der Straße. An zwei gegenüberliegenden Fenstern beäugen sich zwei Katzen. Eine ist getigert, teufelsschwarz die andere. Die Schwarze reckt sich in die Höhe, dehnt und streckt sich, reißt das Maul auf und macht fauchend einen Buckel. Die Getigerte schaut gelangweilt zu. Schließlich dreht sie sich gemächlich um, den Schwanz schwingt sie dabei wie eine Standarte empor.
In Viscarret gab es früher eine Pilgerherberge, von der aber nichts erhalten geblieben ist.
Am Ortsausgang begegnet mir ein Bauer, der am Strick ein Pferd auf die Weide führt. Ein Fohlen stakst noch etwas ungelenk nebenher. Plötzlich springt es mit allen vieren zugleich in die Luft. Und dann rast es los, galoppiert mit dem Frühlingswind um die Wette. Wiehernd wirft die Mutter den Kopf empor. Das Kleine läuft gehorsam zurück und stupst der Stute
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